© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Der Flaneur
Mundwinkel nach unten
Paul Leonhard

Die Menschen hasten durch den Bahnhof. Es ist kalt, eiskalt. Verbissene Gesichter im Vorortzug. Die Endfünfzigerin, die ungefragt mir schräg gegenüber Platz genommen hat, trägt die Mundwinkel derart nach unten, daß ich mich unwillkürlich frage, wieviel Leid sie tagtäglich ertragen muß. Auch die beiden anderen Frauen, die mit Schwung ihre Handtaschen auf die beiden übrigen Plätze werfen, um diese dann wieder auf- und selbst umständlich Platz zu nehmen, blicken verbittert.

Anschließend starren sie vor sich hin. Mundwinkel nach unten. Ich starre in die Bild. 

Auch die Frau mir gegenüber hat bis dahin Bild gelesen, das heißt jene Teile, die ein anderer Reisender als ausgelesen liegengelassen hatte. Sie liest eine Geschichte über das Dschungelcamp. Da mich nur das Interview interessiert, biete ich ihr den Rest an. Sie winkt erschrocken ab, verzieht den Mund, nein, nicht zu einem Lächeln, und schließt empört die Augen, um diese erst beim Aussteigen wieder zu öffnen. Auch ringsherum: Mundwinkel nach unten, starre Gesichter. Was ist los, mit diesen Leuten?

Das scheint sich auch die Zugbegleiterin zu fragen, die gerade die verschiedensten Karten, Blätter und Handys, die alle als Fahrkarte gelten, kontrolliert. Dann schiebt sich doch ein Lächeln durch das Abteil. Es gehört einem schmalen jungen Mann in Tarnkleidung, der von seinem großen Rucksack schier erdrückt wird. „Entschuldigung, ist hier noch ein Plätzchen frei?“ wagt er drei Reisende zu fragen. Die zucken nicht einmal. Allein der neben dem leeren Platz sitzende Mann schiebt seine Aktentasche ein Stück näher an sich heran. Der Soldat hievt seinen Rucksack auf die Gepäckablage und setzt sich vorsichtig. „Vielen Dank“, murmelt er.

Ich starre aus dem Fenster. Sehe, wie sich mein Gesicht widerspiegelt. Sehe den Soldaten mit seinem iPhone spielen und lächeln. Jetzt begreife ich, was meine Mitreisenden treiben. Etwas, was früher Aufgabe der Bundeswehr war: abschrecken.