© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Notorisch extremes Denken
Lorenz Jäger blickt mit dem Facettenauge auf die wahrhaft schillernde Biographie des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin
Lukas Schneider

 Gab es an irgendeiner Hochschule der Bonner Republik, so zwischen 1968 und 1988, im geisteswissenschaftlichen Seminarbetrieb eine Walter-Benjamin-freie Zone? Nein. Kein Semester ohne „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, ohne „Aura“, „Angelus Novus“, „Trauerspielbuch“, „Berliner Kindheit“ und „marxistischen Messianismus“. Erst nach dem Mauerfall flaute die Begeisterung merklich ab. Neue Moden, neue Ikonen, Ernst Cassirer, Georg Simmel, Aby Warburg, warfen sukzessive ihre Schatten auf Benjamin. Zwar reagierte die suhrkamp culture zum 100. Geburtstag 1992 noch einmal mit kräftigem Papierausstoß, aber zum 75. Todestag (JF 40/15) im September 2015 herrschte weitgehend feuilletonistische Friedhofsruhe.    
So muß Lorenz Jäger, der bis vor kurzem die FAZ-Beilage „Geisteswissenschaften“ verantwortete, keinen Überdruß mehr fürchten, wenn er jetzt eine weitere Benjamin-Biographie vorlegt. Im Gegenteil. Vom gehörigen Abstand zu den Zeiten des westdeutschen Rezeptionshochs hat die Arbeit in einer Weise profitiert, daß man sie getrost als die beste in einer langen Reihe empfehlen darf.
Ihre Qualität verdankt sie paradoxerweise nicht der offenkundigen, in Jahrzehnten erworbenen Kennerschaft des Autors. Über die verfügten Vorgänger wie die Benjamin-Biographen Werner Fuld oder Momme Brodersen in ebenso reichem Maße. Zu schweigen von Matadoren der Deutungsindustrie wie Rolf Tiedemann oder Burkhardt Lindner. Von diesem Hauptstrom der selten ohne Bekundungen der Verehrung und des Willens zur intellektuellen wie gutmenschlichen Nachfolge auskommenden Hommage-Literatur des Typs „Über Walter Benjamin“ unterscheidet sich Jäger durch den wohltuend distanzierten, mitunter sogar gespielt desinteressiert anmutenden Umgang mit Leben und Werk eines bedeutenden Denkers, zu dessen Weltanschauung er aber niemanden bekehren, für dessen „Gemeinde“ er niemanden werben will.
Diese Einstellung begünstigt ein didaktisch geschicktes Vorgehen, das den Eindruck erweckt, als würfe auch der Autor erstmals und eigens zu dem Zweck, um sich zusammen mit dem Leser auf ein hermeneutisches Wagnis einzulassen, einen Blick in die hermetisch-verpanzerten Benjamin-Texte, die viele Zeitgenossen als eine „bis zur Unverständlichkeit verdunkelte Scholastik“ (Hans Heinrich Schaeder) empfanden. So vermeidet der Biograph jeden falschen Präsentismus und erzeugt ein Empfinden für die Andersartigkeit und Fremdheit jener Epoche der Weltkriege und totalitären Ideologien, in welcher sich der Philosoph Walter Benjamin überwiegend unwohl fühlte.
Diese wahrhaft historische Perspektive weitet naturgemäß den Horizont des Betrachters und bewahrt ihn vor dem öden moralisierenden Reduktionismus, der den Standard des bundesrepublikanischen Umgangs mit der Geschichte des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1945 prägt. Und der auf keinem anderen zeithistorischen Terrain Erkenntnisprozesse mehr blockiert hat als auf dem der deutsch-jüdischen Geschichte.  
Wie schon seine zahllosen Beiträge dokumentieren, mit denen sich Jäger zu diesem Thema als FAZ-Redakteur profiliert hat, hebt sich auch sein Benjamin-Verständnis von den hier dominierenden Schwarz-Weiß-Malereien ab. Keine staatsanwaltliche Attitüde und kaum eine volkspädagogische Rücksicht hindert ihn daher, das soziokulturelle Milieu des aus assimiliertem Berliner Judentum stammenden Benjamin bis ins Umfeld des auf „Völker-Entmischungen“ pochenden „jüdischen Faschisten“ Oskar Goldberg oder bis zu das Judentum an „Blutreihen“ bindenden Denkern wie Franz Rosenzweig oder Martin Buber zu verfolgen und hell auszuleuchten.
Dabei ist Jäger, wie es einem radikal historistischen Zugriff geziemt, stets bestrebt, Komplexität zu steigern und mit einem Facettenauge auf die Dinge zu schauen. So zeigt er den Bruch, den die junge jüdische Generation mit dem Assimilantentum ihrer Eltern vollzieht, nicht monokausal als Folge der in der wilhelminischen Gesellschaft zunehmender Antipathien oder der nach 1918 offen zutage tretenden Judenfeindschaft auf.
Denn die Entfremdung ging auch von den Juden aus. Nicht zuletzt, weil sich die von Benjamin und seinen Freunden, wie dem nach Palästina ausgewanderten Gershom Scholem, empfundene „Entzweiung“ sich nicht auf die Beziehung zu den Deutschen beschränkte. Sie wurzelte tiefer im Unbehagen an der neuzeitlichen europäischen Kultur der Rationalität. Deshalb bei Scholem die Faszination durch die jüdische Mystik, bei Benjamin der Hang zu esoterisch-theosophischen „Geheimwissenschaften“.
Deshalb mündeten frühe schul- und bildungsreformerische Aktivitäten auch nicht wie bei manchen Mitstreitern im parteipolitischen Engagement in der SPD oder der KPD. Deshalb scheiterten wieder und wieder die von Freund Scholem inspirierten Anläufe, Hebräisch zu lernen und sich dem Zionismus zu verschreiben. Der als ein in den Orient verpflanzter Ableger des modernen Nationalismus war dem nach geistigen, spirituellen Bedürfnisse dürstenden Benjamin mindestens ebenso unangenehm wie der für ähnlich plump materialistisch eingestufte Marxismus.
Solche kulturkritisch motivierten Mentalreservationen hielten den „innerlich einsamen“ Benjamin aber nicht davon ab, Fäden gerade ins marxistische Lager zu knüpfen, gefestigt durch Freundschaften mit Frauen wie der „lettischen Bolschewistin“ Asja Lacis. In welche Widersprüche sich der mit einer Berufskrankheit von Intellektuellen, dem „unglücklichen Bewußtsein“, geschlagene Philosoph dabei verwickeln konnte, zeigt Jäger, der hier wie so oft mit einer seinem Helden kongenialen Virtuosität des „Zeichenlesens“ brilliert, anhand eines von Benjamin-Exegeten bisher ignorierten Text-Partikels über das Wüten des Krieges „in Guernica, in Wyborg und in Warschau“. Wyborg? Die Erwähnung der von Stalins Luftwaffe schwer bombardierten finnischen Stadt bringe im Frühjahr 1940 „einen völlig neuen Ton in Benjamins Gedankenwelt“. Er unterschied in dieser Aufzählung von „Terrorbombardierungen“  nicht mehr zwischen nationalsozialistischem, faschistischem und stalinistischem Terror und schloß insoweit an die von der Freundin Hannah Arendt schon konzipierte Totalitarismustheorie an. Um gleichzeitig in seinen geschichtsphilosophischen Thesen mit den „allerhärtesten bolschewistischen Maximen“ aufzuwarten.       
In der Konturierung solcher vom Biographen nicht überbrückter Widersprüche, in der Exponierung nicht aufzulösender Ambivalenzen des Denkens und in der Vergegenwärtigung einer mit dem Extremen sympathisierenden geistigen Existenz liegt der Wert dieser Biographie, die zugleich ein bedeutender Beitrag zur Geistesgeschichte des totalitären Zeitalters ist.
Lorenz Jäger: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten. Rowohlt Verlag, Berlin 2017, gebunden, 400 Seiten, Abbildungen, 26,95 Euro