© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Denken heißt vergleichen!
Philosophie mit Geist: Manfred Geier bricht Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunter
Thomas Kuzias

Schon 1878 sah Nietzsche Europa und seine abgeschlossenen Volkskulturen in ein „Zeitalter der Vergleichung“ eintreten, dessen Tendenz auf die Vorbereitung einer erneuerten Kultur ziele. Die „Kultur der Vergleichung“ habe eine zersetzende, ausscheidende Funktion und bezwecke gleichzeitig die Erkenntnis des Besseren und Höheren. Das neue Buch von Manfred Geier ist Nietzsches Hoffnung zwar nicht verpflichtet, dennoch ist sein vergleichendes Verfahren geeignet, die verwickelte Materie der Philosophie einem größeren Leserkreis zu erschließen. Mit Martin Heidegger (1889–1976) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951) werden zwei Hauptgestalten der modernen Geistesgeschichte konsequent miteinander in Beziehung gesetzt.
Der Gang durch die Familien- und Bildungsgeschichten führt den Leser tief ins 19. Jahrhundert. Wittgenstein entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Industriellenfamilie aus dem mondänen Wien (seine vier Brüder begingen Selbstmord); Heidegger, der aus kleinbürgerlich-bäuerlichen Verhältnissen kam und dennoch die Universität beziehen konnte, schöpfte zeitlebens Kraft aus seiner Herkunft.
Geier gelingt es, die biographischen Unterschiede spannend und anregend darzustellen, aber die zugleich herausgestellten Parallelen sind in der Tat erstaunlich. Beide Philosophen wurden im gleichen Jahr geboren, beide verließen 1903 ihre Elternhäuser, beide schrieben zuerst Rezensionen zu Logik-Büchern, beide wurden durch die Katastrophe des Ersten Weltkrieges aufgerüttelt (Wittgenstein erhielt drei Tapferkeitsauszeichnungen), und beide unternahmen sie enttäuschende „Abstecher“ in den totalitären Zeitgeist.
Sie errichteten sich beide in abgelegenen Weltgegenden Hütten, in die sie sich zurückzogen und wo sie ihre Philosophien ausarbeiteten – Heidegger im Schwarzwald, Wittgenstein in Norwegen. Ihre frühen Hauptwerke sind Klassiker der Philosophie, beide wurden Vordenker von philosophischen Tendenzen, die sich gegenseitig ausschlossen und bekämpften – und dennoch von der Sprache her philosophierten. Beide haben radikale Kehrtwendungen vollzogen, die ihr Denken in neue Richtungen zwangen. Und beide wurden nach römisch-katholischem Ritus beerdigt.
Ein wichtiges Charakteristikum des Buches ist es, daß die Darstellung ideologischer Probleme auf Versöhnung angelegt ist. Der Autor sucht nach Gemeinsamkeiten und will Gräben zuschütten, nicht vertiefen. Zwei Beispiele machen dies überdeutlich. Bekanntlich wird Heideggers nationalsozialistisches Engagement im Jahre 1933 immer noch als abgründiger Skandal bewertet, ohne beispielsweise angemessen auf die hochschulpolitischen Reformziele und die damit in engstem Zusammenhang stehenden philosophischen Ideen von 1933 einzugehen. Geier indes schildert diese Vorgänge sachlich, ganz ohne die etablierten Affekte und deutet sie angemessen aus dem Begriff der Sorge heraus, den Heideggers Fundamentalontologie selbst bereitstellt.
Des weiteren wird die inhaltliche Nähe, ja Übereinstimmung zwischen Wittgenstein und Heidegger in der Schlüsselfrage der Metaphysik herausgearbeitet. Wittgenstein überwand, mit Hilfe von Kierkegaard, Angelus Silesius, Augustin und eben Heidegger, was bislang nicht bekannt war, den anthropologisch extrem einseitigen logischen Sprachkritizismus seiner Frühphase. Die Anhänger Wittgensteins werden zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Herausgeber seiner Schriften entsprechende Textpassagen manipulierten, indem sie die von Geier nunmehr richtiggestellten Bezüge zu Heidegger strichen. Unbestreitbar liegt hier ein Höhepunkt des Buches.
Ein folgenreicher Unterschied zwischen beiden Denkern betrifft ihre Lebenszeit. Wittgenstein starb im Alter von 52 Jahren an Prostatakrebs. Seine Adepten arbeiteten seine Intuitionen – oftmals gegen die Absicht des Philosophen, wie Geier zeigt – zur sogenannten Analytischen Philosophie aus, die als moderne Scholastik der Pax Americana neben dem Kulturmarxismus heute die Universitäten des Westens beherrscht. Heidegger lebte länger, dominierte die frühe Bundesrepublik mit seinem Denken, nutzte diese Zeit für die Inszenierung seiner esoterischen Spätphilosophie und regelte die Gesamtausgabe seiner Werke.
Manfred Geier hat unter Verwendung neuer Quellen ein ungemein lesenswertes Buch geschrieben, dem eine große Leserschaft zu wünschen ist. Anhand eines umfangreichen Literaturverzeichnisses kann sich jeder Interessierte in die verwickelte Thematik weiter einarbeiten. In einem Punkt allerdings muß man dem Autor entschieden widersprechen. Seine beiden Helden sind für ihn letzte Philosophen: „Ihre Zeit ist abgelaufen.“ Doch gerade die „Kultur der Vergleichung“ bildet nach Nietzsche die Brücke in eine Zukunft neuer schöpferischer Synthesen, sofern man sich nur eingesteht, daß das vergangene Jahrhundert gerade in der Philosophie noch unendlich viel Vergleichsstoff bereithält. Auf deutschem Boden zumindest dürften eigenständige Philosophen irgendwann schon wieder hervortreten.
Manfred Geier: Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, gebunden, 444 Seiten, 26,95 Euro