© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Zwischen allen Stühlen
Wolf Gruner hat das Schicksal der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren zwischen 1939 und 1945 aufgearbeitet
Konrad Löw

Mitte März 1939 entstand, dem Diktat des „Führers“ entsprechend, das Protektorat Böhmen und Mähren als autonomer Teil des Deutschen Reiches. Im Reich selbst tobte seit dem 9. November 1938 eine brutale Judenverfolgung, die sich seit dem Machtantritt Hitlers 1933 kontinuierlich gesteigert hatte. Wie war die Lage der Juden in der Tschechoslowakei vor 1933, zwischen 1933 und der Amputation des Sudetenlandes im Herbst 1938, wie im Protektorat?

Schon in der Einleitung wartet Gruner mit einer Überraschung auf. Unter dem Stichwort „Judenstern“ setzt er den Leser davon in Kenntnis, daß der Impuls zu dieser reichsweiten Diskriminierungsmaßnahme „aus der Hauptstadt des Protektorats und nicht aus Berlin“ gekommen sei, „wo der Vorschlag lediglich von Goebbels adoptiert wurde“. Daraus entwickelt der Autor eine Vielzahl von Fragen, so unter anderem: Wie eigenständig und wie radikal waren die Entwicklungen im Protektorat im Vergleich zum „Altreich“, zur Ostmark und später zum besetzten Polen?

Mit seinen Antworten revidiert Gruner eine Reihe traditioneller Annahmen, so die „Erfolgsstory hinsichtlich der Behandlung der jüdischen Minderheit“ nach 1919 in der Tschechoslowakischen Republik. Schon vor der Okkupation durch Deutschland hat die Tschechoslowakei polnische Juden des Landes verwiesen, nach der Abtrennung des Sudetenlandes jüdische Flüchtlinge abgewiesen. „Daß die tschechische Regierung als bloßer Befehlsempfänger für die antijüdische Politik des Reichsprotektors agiert hätte“, nennt Gruner allerdings eine „Legende“.

Das Protektorat bewohnten rund zehn Millionen Menschen. In Prag stellten die etwa 20.000 Deutschen unter den Tschechen nur eine Minderheit dar. Offiziell gab es nun drei Einwohnerklassen: Neben den protektoratsangehörigen Tschechen 189.000 reichsangehörige Deutsche und 117.000 Juden, von denen das starke bürgerliche Milieu seit Generationen sprachlich und kulturell deutsch geprägt war. Damals war in Prag jeder zweite Anwalt Jude. Ähnlich hoch dürfte ihr Anteil an Ärzten gewesen sein. Gleich nach der Besetzung entzog die tschechische Regierung den jüdischen Ärzten und Advokaten die Zulassung. Ähnliche „Säuberungen“ erfolgten in den anderen Bereichen des öffentlichen Lebens. 

Im Reichsinnenministerium hieß es jedoch am 25. März 1939, es werde „grundsätzlich der Regierung des Protektorats überlassen bleiben können, ob und welche Maßnahmen sie gegen die Juden trifft“. Die Juden litten zunehmend unter Angriffen tschechischer Faschisten. Doch die gewalttätigen Demonstrationen blieben ohne große Resonanz seitens der Bevölkerungsmehrheit. 

Ab dem 6. September 1939 galt für Juden ein Ausgehverbot ab 18 Uhr. Die diversen Machthaber des Protektorats sahen sich veranlaßt, die Bevölkerung darauf hinzuweisen, daß, wer immer noch gute Beziehungen zu Juden pflege, als Landesfeind betrachtet und entsprechend bestraft werde. 

Am 27. September 1941 übertrug Hitler dem SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich die Geschäfte des „erkrankten“ Reichsprotektors von Neurath. Der war zwar ein treuer Diener seines Herrn, aber zu „lasch“ gegenüber den Tschechen, was dazu führte, daß sich Sabotageakte, aber auch Korruption und Nepotismus häuften. Heydrich verhängte sofort den Ausnahmezustand, schuf Standgerichte, verbot alle Veranstaltungen. Bis zur Aufhebung des Ausnahmezustandes am 20. Januar 1942 wurden 486 Menschen hingerichtet. 

Fast 70.000 Juden wurden in Todeslager deportiert

Schon ab 6. Oktober 1941 – früher als bisher angenommen wurde – bereitete Adolf Eichmann von Berlin aus die „Abschiebung“ von Juden aus dem Reich „nach dem Osten“ vor, die im Protektorat am 18. Oktober begann und mit Unterbrechungen bis Anfang 1943 dauerte. Ein Großteil der Deportierten wurde unmittelbar ermordet. Für manche gab es in Theresienstadt eine Zwischenstation, wenige blieben dort bis Kriegsende. „Bis Ende 1942 hatte die Sicherheitspolizei insgesamt 69.667 Menschen aus dem Protektorat ‘evakuiert’. Nur noch 15.550 Juden, davon 6.211 in ‘Mischehe’, wohnten in diesem Gebiet außerhalb Theresienstadts und der Konzentrationslager, 13 Prozent der ursprünglichen Zahl.“ Manchen war noch vor Ausbruch des Krieges 1939 die Auswanderung geglückt, die meisten starben eines gewaltsamen Todes in der Deportation.

Am 4. Juni 1942 erlag Heydrich einem Attentat, das vom britischen Geheimdienst und Exiltschechen um Edvard Benes von London aus geplant und umgesetzt worden war. Infolge von Rachemaßnahmen der deutschen Besatzer wurden Hunderte tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder einer tschechischen Untergrundbewegung hingerichtet, so alle Männer von Lidice. Karl Hermann Frank, Staatsminister im Protektorat, konnte allerdings Hitler davon abbringen, von geplanten Massenerschießungen tschechischer Oppositioneller abzusehen. 

Die Darstellung geht sehr ins Detail. Alle Fakten sind bestens belegt. Auch die „traditionelle Auffassung einer passiven Hinnahme der NS-Verfolgung durch die Juden“ stellt Gruner in Frage, wobei er schon jeden Ungehorsam, wie das Ablegen des Judensterns und die Mißachtung von Einschränkungen, unter Widerstand subsumiert, ja sogar die Flucht. „Bis 1941/42 spielten Juden bei Widerstands- und Spionageaktivitäten durchaus eine Rolle, dann änderte sich dies wegen der unter Heydrich einsetzenden Repressalien und der Deportationen.“ 

Wolf Gruner: Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. Lokale Initiativen, zentrale Entscheidungen, jüdische Antworten 1939–1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2016, gebunden, 431 Seiten, 34,90 Euro