© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/17 / 31. März 2017

Im Legoland des Leftism
Das kulturmarxistische Fußvolk hat ein „Wörterbuch des besorgten Bürgers“ erstellt
Thomas Kuzias

Vor nunmehr über einem Vierteljahrhundert haben die Einwohner Leipzigs durch ihren beherzten Protest den allgemein erkennbaren Anfang vom Ende der marxistisch-leninistischen Diktatur in Mitteldeutschland eingeleitet. Daran zu erinnern erscheint nötiger denn je, hat doch an der Pleiße seitdem ein Milieu Fuß gefaßt, dem es gelang, die Stadt in ein Zentrum linksradikaler Ideologieansätze zu verwandeln. Die Zustände in der einstigen Heldenstadt brauchen den Vergleich mit den Hochburgen des selbstbewußten Linksaktivismus in Westdeutschland nicht zu scheuen. „Bio-Deutsche raus!“ lautet eine an Wände gesprühte Parole. In Hinsicht auf die Anwendung von Gewalt befindet man sich in Leipzig sogar auf der Überholspur. 

Seit vor Monaten der Pegida-Ableger Legida entnervt die Segel strich und sich von der Straße zurückzog, scheint die „konservative Bürgerbewegung“ (Hans-Joachim Maaz) geschlagen. Im seit 1990 von westdeutschen Sozialdemokraten regierten Leipziger Rathaus und seinen „zivilgesellschaftlichen“ Unterstützerkreisen herrscht seitdem Siegesstimmung. Doch in Dresden funktionieren die „Montagsspaziergänge“ reibungslos wie eh und je.

Die politische Realität in ganz Deutschland ist im Umbruch begriffen, gerade dank der politischen Protestbewegungen und unter aktiver Mithilfe der Fehler-Politik der etablierten Parteien. Pegida, AfD, Bürger in Wut, Identitäre Bewegung, kleine Bürgerbewegungen und zahlreiche Einzelakteure in den sozialen Medien haben diese tektonischen Verschiebungen der alten Bundesrepublik ausgelöst. Alternative und unabhängige Medien und Netzportale haben verstärkend gewirkt. 

Umbrüche derartigen Ausmaßes werfen neue Ideen und Parolen auf, verändern die Sprache, prägen Begriffe oder deuten Symbole um. Und auch das übel beleumundete Schlagwort gehört nach Hugo von Hofmannsthal zum Formenschatz als geistigem Raum der Nation. Die Idee der Erfassung und Analyse dieser Vorgänge liegt also in der Luft. Insofern läßt es aufhorchen, daß gerade Autoren aus dem linken Milieu Leipzigs den Versuch unternommen haben, ein „Wörterbuch des besorgten Bürgers“ zu erarbeiten.

Anhand von 106 Einträgen von „Abendland“ bis „Zigeunerschnitzel“ versuchen die zehn Autoren das Vokabular der neuen deutschen Protestbewegungen zu erfassen. Wer das Wörterbuch jedoch zur Hand nimmt, erkennt schnell, daß hier eine fruchtbare Idee auf Sandboden fiel. Das „Wörterbuch des besorgten Bürgers“ gibt vor, die wichtigsten Parolen und Begriffe des „besorgten Bürgers“ erfaßt und verstanden zu haben. Davon kann jedoch keine Rede sein. Die Autoren haben Schwierigkeiten mit der Chronologie von Ereignissen, sie können selten wichtig von unwichtig trennen, und es gelingt ihnen nicht, ihre Lust an diffamierenden NS-Vergleichen zu zügeln. Tiefpunkte ihres Niveaus sind unter „Gummimuschi“, „Antifa“ oder „Schießbefehl“ nachzuschlagen. Der Eintrag „Sorge“ stellt die Sorge der Autoren eigens heraus, spricht sie ihren Untersuchungsobjekten jedoch ab. Nahezu jeder Artikel überschüttet den „besorgten Bürger“ gnadenlos mit Häme, Spott und bisweilen irrsinnigsten Anwürfen. 

All dies geschieht spielend vom Standpunkt einer überlegenen Moral und infantilen Logik, nach deren Maßstäben das untersuchte Phänomen eigentlich gar nicht existieren dürfte – Willkommen im Legoland des Leftism! Sprache, Stil und Argumentationsweise der meisten Artikel atmen das Niveau engagierter Gymnasiasten. Welchen Wert aber hat ein derartiges Werk? Weist es irgendwie über sich hinaus? Zwei Antworten scheinen sinnvoll. Zum einen vermittelt das Wörterbuch jedem Interessierten eine zuverlässige Einsicht in die verwirrte Gedanken- und Gefühlswelt einer neuen Generation von Linksradikalen. Man erfährt hier sehr konkret, welchem intellektuellen Milieu der Typus des aggressiven Gegendemonstranten zuzurechnen ist. 

Heideggers „Alltäglichkeit der Besorgnisintensität“

Zum anderen hat man den Eindruck, daß den Autoren unwissentlich trotz ihrer denunziatorischen Empirie eine Art Entdeckung gelungen ist. Denn der nonkonforme Wut- oder Mut-Bürger wird durchgehend als „besorgt“ dargestellt – ein Beleg für die erhellende Reichweite des Denkens Martin Heideggers. Dieser erkannte in der Struktur der Sorge einen unhintergehbaren Grundtatbestand menschlicher Selbstverständigung (Existential). Das Dasein steht für Heidegger nicht in der Bestimmtheit des Definitorischen, sondern in der „Alltäglichkeit der Besorgnisintensität“. Das kulturmarxistische Autorenkollektiv macht insofern darauf aufmerksam, daß die gesteigerte Intensität der Sorge den Bürger ins Politische zurückzubringen tendiert. – Diese These erscheint durchaus geeignet, Sachhaltigkeit, psychologisches Einfühlungsvermögen und die nötige Redlichkeit in die Deutungsversuche wichtiger Prozesse der deutschen Gegenwart zurückzubringen. Zur Erhellung von Heideggers politischem Engagement im Jahre 1933 wäre sie indes nicht weniger fruchtbar.

Robert Feustel, Nancy Grochol, Tobias Prüwer, Franziska Reif (Hrsg.): Wörterbuch des besorgten Bürgers, Ventil Verlag, Mainz 2016, broschiert, 151 Seiten, 14 Euro