© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

„Wir verstehen gar nicht, was vor sich geht“
Was wird in deutschen Moscheen eigentlich gepredigt? Ein Buch darüber sorgt für Schlagzeilen. Der Islamwissenschaftler und Mohammed-Biograph Tilman Nagel ordnet dessen Thesen ein
Moritz Schwarz

Herr Professor Nagel, das Buch „Inside Islam“ des ARD-Journalisten Constantin Schreiber sorgt für Furore. Machen wir uns tatsächlich falsche Vorstellungen von dem, was in deutschen Moscheen gepredigt wird?

Tilman Nagel: Ja, selbst der Gebildete versteht nicht, was dort vor sich geht, weil er die Hintergründe nicht kennt.

Inwiefern?

Nagel: Er versteht zum Beispiel schon nicht die besondere Bedeutung der islamischen Freitagspredigt.

Schreiber hat für sein Buch Freitagsgebete in 13 zufällig ausgewählten Moscheen besucht. Ist das überhaupt repräsentativ?

Nagel: Im wissenschaftlichen Sinne sicher nicht. Aber mein Eindruck ist, daß seine Erfahrungen dem „Durchschnitt“ entsprechen.

Welche „besondere Bedeutung“, von der Sie reden, hat die islamische Freitagspredigt?

Nagel: Es ist ein zentraler Ritus. Allerdings ist der Ritus im Islam nicht einfach der Vollzug des Gottesdiensts, wie im Christentum, sondern er stellt den Daseinszweck des Menschen dar.

Den „Daseinszweck“?

Nagel: Ja, den islamischen Ritus zu vollziehen bedeutet die vollständige Übergabe der eigenen Person an Allah. Zudem: Historisch verfolgte die islamische Herrschaft stets die Absicht, überall in ihrem Machtbereich den Vollzug der Riten zu garantieren. Und die Freitagspredigt war ein Akt der Loyalitätsbekundung gegenüber der islamischen Herrschaft. 

Sie hat also per se politische Bedeutung? 

Nagel: Ganz genau. So war der Imam gehalten, in der Predigt den Namen des Herrschers zu preisen. 

So war das im Mittelalter, aber ist das heute noch relevant? 

Nagel: Ich glaube, daß dies in den Staaten, die den Islam als ihre Grundlage betrachten, sogar wieder wichtiger wird. 

Wie aber ist das in Deutschland? 

Nagel: Reste dieser Vorstellung sind auch bei uns noch erhalten.

Die von Schreiber veröffentlichten Predigtinhalte scheinen aber gar keinen politischen Bezug zu enthalten. 

Nagel: Auch wenn dieser nicht explizit ist, ist er nach islamischem Verständnis doch vorhanden. Denn nach der Scharia befindet sich jedes Territorium, in dem der islamische Ritus ausgeübt wird, im Übergang zum Islam. Und das wird durch jede Freitagspredigt bei uns implizit bekundet. 

Demnach wäre das Problem allerdings nicht, wie Schreiber es schildert, was in der Freitagspredigt gesagt wird, sondern diese selbst?

Nagel: So ist es. Aber das wird in der Diskussion bei uns leider beschwiegen.

Andererseits korrespondiert Ihr Befund mit der Schlußfolgerung Schreibers: nämlich  insofern als sein Fazit lautet, daß die Freitagspredigten die Gläubigen nicht zur Integration in unsere Gesellschaft anregen, sondern sie eher von dieser weglenken.  

Nagel: Eben, durch die Institution der Freitagspredigt wird der Moslem in Deutschland daran erinnert, daß er letztlich nicht seiner deutschen Umwelt angehört, sondern der Umma, der Gemeinschaft der islamischen Gläubigen. Selbst dann, wenn in der Freitagspredigt dazu aufgefordert wird, sich freundlich und friedlich zu verhalten. Und übrigens auch, wenn viele Moslems das gar nicht so wahrnehmen, weil sie gerne in Deutschland leben und keine ernsten Probleme mit unserer Gesellschaft haben. Dennoch zielen die islamischen Gelehrten und auch die Moslemverbände bei uns letztlich genau darauf ab – die Gläubigen auf Distanz zur nichtislamischen Gesellschaft zu halten. Darauf zielen übrigens auch die Staatsverträge etc. ab, die diese mit deutschen Institutionen – die meist völlig unwissend darüber sind, was wirklich Sache ist – abgeschlossen haben. 

Was heißt das konkret?

Nagel: Mit solchen Verträgen ruht nach islamischer Lehrmeinung die Ausübung der Riten auf einer rechtlichen Grundlage, und mit dieser also legitimen Ausübung befindet sich das Geltungsgebiet im Übergang zum Islam. Und so kann in der Folge schrittweise beansprucht werden, daß der öffentliche Raum den Erfordernissen des Islam unterworfen wird.  

Was wäre folglich der richtige Umgang mit den Freitagspredigten? 

Nagel: Erst einmal zu erkennen, daß es sich dabei nicht um den „Sonntagsgottesdienst“ der Moslems handelt, so als seien alle Religionen im Grunde gleich. Das ist eine naive Vorstellung. Dann endlich dafür zu sorgen, was wir seit über dreißig Jahren versäumen, nämlich unser Verständnis von Religion, Politik und Staat gegenüber den Moslems klar zur Geltung zu bringen. Zum Beispiel müßte in der Imam-Ausbildung klipp und klar vermittelt werden, was ein säkularer, freiheitlicher Staat eigentlich ist. 2016 hat der Rektor der Kairoer Al-Azhar-Universität, eine der führenden Institutionen im Islam, eine Rede im Deutschen Bundestag gehalten und dort deutlich zum Ausdruck gebracht, daß für Moslems eine Gesetzgebung, die allein von  weltlichen Einrichtungen ausgeht, letztlich keine Gültigkeit hat. 

Wie hat der Bundestag reagiert?

Nagel: Wie immer – zumindest nach meiner Erfahrung: Die politische Klasse nimmt das einfach nicht wahr.

Warum ist das so? 

Nagel: Ich meine, das liegt an der westlichen Arroganz zu glauben, überall auf der Welt laufe sowieso letztlich alles auf das westliche System zu. Ich fürchte aber, das wird sich als fataler Irrtum erweisen. 

Müßte die Freitagspredigt verboten werden?

Nagel: Nein, das würde nicht funktionieren. Die einzige Möglichkeit ist, die Imame intensiv zu schulen, um ihnen klarzumachen, daß die Grundlage der Gesellschaft, in der die Moslems hier leben, keine islamische ist. Daß unsere Werte, wie Freiheit oder Gerechtigkeit,  im Sinne unserer Gesellschaft zu verstehen sind, und nicht im Sinne einer koranischen Weltauslegung.   

Ist es überhaupt möglich, das durchzusetzen?   

Nagel: Ich weiß es nicht, aber das müßte das Ziel sein.  

Fazit: Je größer das Problempotential im Islam ist, desto deutlicher müßten die Probleme angesprochen werden und desto gefährlicher ist es, werden sie statt dessen unter den Teppich gekehrt?  

Nagel: Genau! Die Realität ist aber: Je größer das Problempotential, desto mehr wird dieses unter den Teppich gekehrt. Und desto mehr wachsen sich die Probleme unter dem Teppich zu handfesten Gefahren aus. 

Warum lassen wir das zu?

Nagel: Weil wir selbst nicht mehr verstehen, was es bedeutet, eine säkularisierte Gesellschaft erreicht zu haben. Wir halten das für selbstverständlich, für den „Naturzustand“, als müßte die Gesellschaft historisch automatisch dort münden. Falsch! Dies ist eine Errungenschaft, die keineswegs selbstverständlich ist, die gepflegt und bewahrt werden muß, da man sie sonst verliert.

Die Institution des Freitagsgebets mag bedenklich sein, doch inhaltlich hat Schreiber nicht viel Spektakuläres zutage gefördert – angesichts dessen, daß wir anderweitig gewöhnt sind, daß etwa Juden als Affen und Schweine, die Deutschen schon als „Köterrasse“ bezeichnet wurden.

Nagel: Das stimmt, allerdings war Schreiber auch nur in „normalen“ Moscheen, nicht etwa in salafistischen Häusern. Allerdings wäre ein normaler Moslem wohl auch kaum geschockt über das, was im Salafismus gesagt wird, da dieser aus dem normalen Islam erwächst. 

Schreiber berichtet von Predigten, die zu Güte und Gerechtigkeit aufforderten – ausdrücklich auch gegenüber Nichtmoslems. Er kritisiert aber, es sei nicht definiert worden, was damit gemeint sei. Allerdings ist eine Religion auch kein Moralseminar, und auch das Christentum definiert das nicht exakt. Übertreibt Schreiber hier nicht?   

Nagel: Nein, im Gegenteil. So betrachten wir Güte und Gerechtigkeit etwa als Humanum, das keiner religiösen Ableitung bedarf. Im Islam dagegen sind diese Werte nur im Zusammenhang mit dem Koran zu verstehen.  

Ist das nicht kleinlich? Wenn Muslime über den Umweg des Islam zu Güte und Gerechtigkeit kommen, soll uns das doch recht sein, Hauptsache sie kommen dort an!

Nagel: Genau das ist für eine politisch korrekte Position die verlockende Perspektive. Doch damit gestehen Sie zu, daß das Menschliche erst durch die Offenbarung Allahs gegeben ist. 

Warum ist das problematisch? 

Nagel: Noch einmal zum Vergleich: Der westliche Menschenrechtsbegriff geht von einer objektiven Definition des Menschen aus: Menschenrechte genießt jeder Mensch kraft seines Menschseins. Der Islam bekennt sich zwar auch zu Menschenrechten, die unseren sogar sehr ähnlich sind. Aber die Frage ist, wer gilt eigentlich als vollwertiger Mensch? Im Islam leiten sich die Menschenrechte aus der Vermittlung des Islam ab. Folglich ist nur der vom Islam Erleuchtete ein des vollen Menschseins teilhaftiges Wesen. Anders als bei uns sind die Menschenrechte also an den Islam gebunden – denn der Mensch, das ist der Vertreter Allahs! Wie immer: Das Entscheidende steht im „Kleingedruckten“ – und kommt in der Debatte bei uns so gut wie nicht vor.

Zu den nach seiner Ansicht skandalösesten Äußerungen während der Predigten zählt Schreiber die Aufforderung an den Moslem: „Befreunde dich also mit deinen rechtschaffenen Brüdern!“ Daraus liest Schreiber ein Freundschaftsverbot gegenüber Nichtmoslems. Ist eine solche Ex-negativo-Schlußfolgerung zulässig?  

Nagel: Ich nehme an, daß sich die Aufforderung auf Sure 5, Vers 48 des Korans bezieht. Darin heißt es, daß Muslime mit Juden und Christen um die Wahrheit wetteifern sollen. Tatsächlich aber ist es ein totes Rennen, denn es ist klar, daß die Moslems gewinnen. Liest man weiter, wird zudem davor gewarnt, sich Juden oder Christen zu Freunden zu nehmen, denn diese seien jeweils nur untereinander gut Freund. Und es gibt zahlreiche Mohammed zugeschriebene Aussprüche, laut denen diese besondere Brüderlichkeit nur unter Moslems möglich ist. Ich meine also, Schreiber hat mit seiner Schlußfolgerung recht. Nach meiner Ansicht ist das große Versäumnis der Islamwissenschaft, nicht ernsthaft herauszuarbeiten, was der Islam eigentlich ist und inwiefern er sich vom Christentum grundlegend unterscheidet. Denn wer das tut, der wird in der Zunft zum Außenseiter. Dazu gehört übrigens auch die Erkenntnis, daß der Islam im Grunde die in der Spätantike vollzogene Individualisierung durch das Christentum rückgängig macht. 

Inwiefern?

Nagel: Allah ist kein zurückgezogener Gott, der dem Menschen Raum zur individuellen Vervollkommnung gibt. Sondern er ist allgegenwärtig, so daß der Mensch dazu gar keine Möglichkeit hat. Der Christ hat eine Seele und einen freien Willen und soll sich selbst vervollkommnen, bis er schließlich im Paradies den Frieden Gottes erlangt. Für den Moslem dagegen ist die Vollkommenheit bereits im Diesseits vorhanden – wenn es dem Islam unterworfen ist. Laut Islam ist dies die beste aller Welten, weil alles in ihr von Allah geschaffen ist, weil sie direkt zu Allah ist. Deshalb gibt es in ihr auch keinen legitimen freien, sondern nur einen determinierten Willen. 

Was ist mit dem „großen Dschihad“, dem islamischen Weg zur inneren Vervollkommnung? 

Nagel: Anders als den bekannteren „kleinen Dschihad“, den Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, gibt es den „großen Dschihad“ im Islam nicht ursprünglich, sondern erst etwa seit dem 10. Jahrhundert. Als nämlich islamische Gelehrte bemerkten, daß auch die vollkommenste äußerliche Befolgung der Scharia den ganzen Menschen nicht wirklich erfaßt. Daher sollte der Gläubige daran arbeiten, die Scharia auch zu verinnerlichen. Hier geht es also nicht um eine freie Vervollkommnung als Mensch, sondern um Verinnerlichung der Gebote als Gläubiger. Dazu kommt, daß der große Dschihad im Grunde eher eine Fiktion unserer westlichen, politisch korrekt gestimmten Intellektuellen ist, die ihn ausgegraben haben und gerne davon reden, während er in der islamischen Welt tatsächlich kaum eine Rolle spielt. 

Aber entsteht im Islam nicht ebenso wie im Christentum individuelle Freiheit durch die persönliche Beziehung eines jeden Gläubigen zu Allah? 

Nagel: Das könnte man meinen. Aber  da sind wir wieder bei dem Umstand, daß nach islamischer Vorstellung die persönliche Beziehung zu Gott zwar möglich, aber nicht das Entscheidende ist. Dies ist und bleibt der Vollzug des Ritus, der eben kein individueller Akt ist. Der Moslem tritt Allah also nicht als Seele gegenüber, sondern als Anbetender. Insofern ähnelt der Islam weniger dem Christentum als einer auf die Umma – die Gesamtheit aller Gläubigen – ausgeweiteten Stammesreligion. Wissen Sie, daß Europa künftig islamisch sein werde, hat man mir schon 1965 in der Türkei erklärt. Dabei war das damals noch freundlich gemeint, Motto: Ihr sollt am Glück teilhaben. Inzwischen aber hat sich die Tonlage geändert. Heute heißt es: Ihr seid dekadent und im Verschwinden begriffen, und der Islam wird in naher Zukunft dieses Vakuum füllen. 






Prof. Dr. Tilman Nagel, der Orientalist, Arabist und Islamwissenschaftler lehrte an den Universitäten Bonn, Göttingen, Sanaa im Jemen und Kairo. Er ist Verfasser wichtiger Standardwerke zum Thema Islam, darunter der tausendseitigen Biographie „Mohammed. Leben und Legende“. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören außerdem: „Die Geschichte der islamischen Theologie“ (1994), „Das islamische Recht. Eine Einführung“ (2001) „Der Koran. Einführung, Texte, Erläuterungen“ (2002),  „Der Koran und sein religiöses und kulturelles Umfeld“ (2010), „Angst vor Allah? Die Auseinandersetzungen mit dem Islam“ (2014). Geboren wurde Tilman Nagel 1942 in Cottbus. 

Foto: Gebet in einer Berliner Moschee: „Durch Institutionen wie die Freitagspredigt wird der Moslem bei uns daran erinnert, daß er letzlich nicht seiner deutschen Umwelt angehört“ 

 

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