© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/17 / 07. April 2017

Ein deutscher Sonderweg
Energiepolitik: Vor 50 Jahren ging das AKW Gundremmingen in den Dauerbetrieb / Klimaretter Kernkraft?
Thomas Fasbender

Es war die Zeit des grenzenlosen technologischen Optimismus, Jahre vor der ersten Ölkrise, vor dem Waldsterben, vor den Untergangsszenarien des Club of Rome. Die Kernenergie verkörperte einen Menschheitstraum. Lewis Strauss, Chef der US-Atomenergiekommission AEC, prophezeite 1954, die neue Energieressource werde „zu billig sein, als daß man sie noch mißt“. Zwölf Jahre später, am 12. April 1967, ging das erste westdeutsche Kernkraftwerk in den kommerziellen Betrieb: der später Block A genannte 237 Megawatt (MW) starke Meiler in der schwäbischen Donaugemeinde Gundremmingen. Mit seiner Leistung war das Kraftwerk damals nicht nur das stärkste in Bayern und Deutschland, sondern sogar das stärkste AKW der Welt.

Es war allerdings nicht das erste auf deutschem Boden; die DDR hatte knapp die Nase vorn. Im brandenburgischen Rheinsberg war im Oktober 1966 ein 70-MW-Block sowjetischer Bauart ans Netz gegangen. Während Rheinsberg bis 1990 Strom lieferte, wurde Block A in Gundremmingen schon 1977 stillgelegt. Nach einem Kurzschluß war radioaktiver Dampf im Reaktorgebäude ausgetreten: Totalschaden. Schon zwei Jahre zuvor waren zwei Schlossermeister aus dem gleichen Grund ums Leben gekommen.

Vor 40 Jahren befanden sich aber bereits die Blöcke B und C im Bau. Noch heute liefern sie je 1.344 MW ins deutsche Stromnetz – bis zur politisch forcierten Abschaltung zum Jahresende 2017 (Block B) bzw. 2021 (Block C). Seit Verkündung der „Energiewende“ durch die Bundeskanzlerin drei Tage nach der Havarie im japanischen AKW Fukushima Daiichi 2011 strebt die Bundesregierung die komplette Abschaltung aller deutschen Atommeiler bis 2022 an.

Damit steht Deutschland weitgehend allein. Eine Reihe von EU-Ländern hat sich zwar ebenfalls von der Technologie verabschiedet – oder ist wie Österreich dank Volksabstimmung 1978 nie eingestiegen. Der von den Schweizer Grünen verlangte Atomausstieg bis 2029 scheiterte per Volksabstimmung – es bleibt bei 2034. Doch weltweit überwiegt der Zubau neuer AKW-Kapazitäten. Die Internationale Energieagentur (IEA) prognostiziert ein Wachstum von heute 440 Reaktoren (elf Prozent der weltweiten Stromerzeugung) auf 543 Reaktoren 2030 und 624 Reaktoren 2040. Drei Viertel des Zubaus entfallen auf China, Indien, Südkorea und Rußland. Die US-Regierung hat sich vorige Woche nicht nur zur Kohle, sondern auch zur Kernkraft bekannt. Der europäische Ausstieg schlägt sich in der Summe nur mit minus zehn Prozent nieder. Im Bau befindlich sind derzeit etwa 60 Meiler in 14 Ländern.

Die Kernenergie ist extrem fixkostenlastig

Zwei Faktoren befeuern die Renaissance der Kernenergie: die Sicherheitstechnik der neuesten Kraftwerke und die UN-offizielle Furcht vor dem Klimawandel. 2016 ging im russischen Nowoworonesch der weltweit erste Atomreaktor der „Generation 3+“ ans Netz – mit dem ersten Post-Fukushima-Design, das unter anderem ein Auffangbecken für geschmolzene Kernbrennstoffe sowie umfassende passive, stromunabhängige Kühlsysteme vorsieht. Sogar der atomkritische US-Verband „Vereinigung besorgter Wissenschaftler“ (UCS) bezeichnet die neueste AKW-Generation als die „einzig sichere und geschützte“.

In einer 80seitigen Studie hat sich die UCS schon vor zehn Jahren dem Thema „Atomenergie und globale Erwärmung“ gewidmet. Es sei der Klimawandel, der die Atomtechnologie letzten Endes retten wird. CO2-frei und in der Perspektive – bei Realisierung der Brennstoffkette einschließlich Wiederaufarbeitung – annähernd unerschöpflich, liefert die Atomspaltung Energie in einer Dichte und zu Kosten, mit denen erneuerbare Energieträger wie Wind oder Sonnenlicht nicht mithalten können.

Zwei ökonomisches Gegenargumente treffen aber zu: Die Kernenergie ist staatlich dominiert und extrem fixkostenlastig. Die Bau- und Rückbaukosten einschließlich der aufwendigen Entsorgung machen den Löwenanteil der finanziellen Belastung aus – der eigentliche Betrieb fällt vergleichsweise kaum ins Gewicht. Daher liegt der Schlüssel zu niedrigen Stromkosten je Kilowattstunde in der Reaktorlaufzeit. Waren AKW anfangs nur für 25 bis 40 Jahre ausgelegt, so haben allein in den USA inzwischen über 75 Reaktoren die Genehmigung zur Laufzeitverlängerung auf 60 Jahre erhalten. Russische Ingenieure kalkulieren bereits mit 80 Jahren Lebensdauer.

Unterstellt man, daß anthropogenes Kohlendioxid (CO2) einer der Hauptverursacher der globalen Erwärmung ist, dann gebührt dem Abschied von Kohle, Öl und Gas allerhöchste Priorität. Für „Klimaretter“ müßte daher der CO2-freie Atomstrom zu den alternativen, „grünen“ Energien gehören. Doch schon vor den Katastrophen von Harrisburg, (USA 1979) oder Tschernobyl (Ukraine 1986) herrschte Angst vor der unsichtbaren Radioaktivität: Vor 50 Jahren konnte die lokale „Notgemeinschaft Atom-Kraftwerk Gundremmingen-Offingen“ erst mit finanziellen Versprechen zum Verstummen gebracht werden.

Ausländische Experten beurteilen den deutschen Atomausstieg als einen Sonderweg. Industrievertreter halten thermische Kraftwerke wegen der Versorgungssicherheit für unersetzlich. Energiewende-Verfechter sehen im Umstieg auf Windräder, Biogas und Solarpaneele ein Vorbild für die ganze Welt. Daß Deutschland, einst Technologieführer im Reaktorbau, auf dem Gebiet keine Rolle mehr spielt, hat die Wirtschaft verkraftet – die Hälfte der deutschen Exporte entfallen auf die Auto-, Chemie- und Elektronikindustrie sowie den Maschinenbau. Wenn der Klimawandel in 50 Jahren den Stopp der fossilen Energieerzeugung erfordert, liefern dann im Zweifel eben chinesische, russische oder US-Hersteller.

Kernkraftwerk Gundremmingen:  www.kkw-gundremmingen.de