© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Angst vor einem Fehlschlag
Türkei: Kurz vor dem Verfassungsreferendum zieht Präsident Erdogan alle Wahlkampfregister
Marc Zoellner

Ganz Diyarbakir hatte sich herausgeputzt: Türkische Fahnen, so weit das Auge reichte, flatterten auf den stark frequentierten Hauptverkehrsstraßen von Amtsgebäuden herab und ebenso vor vielen Fenstern der Wohnquartiere in der Altstadt der Millionenmetropole. Der Besuch Recep T.  Erdogans in Ostanatolien sollte für die Einwohner zu einem besonderen Erlebnis gestaltet werden – und für Erdogan gleichsam zum vollen Erfolg auf dem Höhepunkt seines Wahlkampfes um die Verfassungsreform, über die die Türken am 16. April abstimmen.

Sichtlich genoß dann auch der 63jährige das Bad im Flaggenmeer – und sparte nicht mit Lob für seine Anhänger. Vor allem pries er die Einheit des türkischen Volkes – unter ihm als Präsidenten. Denn die türkische Republik, mahnte Erdogan in der zumeist von der kurdischen Minderheit bewohnten Stadt, sei ebenso der Staat der Türken und der Araber wie jener der Kurden. „Und wie wir uns keine Türkei ohne Istanbul, Izmir, Trabzon, Antalya und Erzurum vorstellen können“, so Erdogan weiter, sei eine Türkei ohne Diyarbakir unvorstellbar.

Der türkische Präsident befindet sich seit Wochen im Wahlkampfmodus, in dem er vor allem außenpolitisch viel Porzellan zerschlug: Beinahe täglich tritt er derzeit im landesweiten Fernsehen auf und fordert ein „Evet!“, ein klares „Ja!“ der Türken zu seinem Referendum. 

Viel Zeit bleibt ihm dabei nicht mehr. Denn bereits an diesem Wochenende werden gut 58 Millionen Türken dazu aufgerufen sein, ihre finale Entscheidung an der Wahlurne kundzutun. Und noch immer, ergaben zuletzt veröffentlichte Umfragen, sind bis zu dreißig Prozent der Wähler in ihrem Abstimmungsverhalten unentschieden. Doch Erdogan gibt sich trotzdem bereits siegessicher – und sei es nur in Zuversicht auf einen kleinen Sieg.

Nationalistische MHP als Zünglein an der Waage

„Mehr als 52 Prozent“ erwarte er schon an Ja-Stimmen, bestätigte der türkische Präsident im Interview mit dem Nachrichtensender CNN Türk. Doch ein Ergebnis, welches „von 60 Prozent gekrönt wäre“, bevorzuge er persönlich natürlich. Die erste Zahl gleicht dabei seiner Quote zur Präsidentschaftswahl 2014. Letztere erhofft der AKP-Gründer sich wiederum mit Hilfe der nationalistischen MHP – des Steigbügelhalters von Erdogans konservativ-islamischer AKP in Fragen der Verfassungsreform – zu erzielen. 

Um deren Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli für ein Ja zum Referendum zu gewinnen, hatte Erdogan in den vergangenen Monaten eine riskante programmatische Annäherung der AKP an die MHP gewagt: so zum Beispiel mit der Übernahme der Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei und ebenfalls jener der konsequenten Zerschlagung der linksextremen PKK anstelle einer – bis dahin bevorzugten – Fortführung der Friedensverhandlungen mit den auch in der EU sowie den Vereinigten Staaten als Terrorgruppe gelisteten Separatisten.

Doch während Bahçeli seine Parteispitze im Gegenzug auf eine positive Stimmabgabe einschwört, scheint zumindest die Basis der Nationalisten dem ausgemachten Burgfrieden nicht über den Weg zu trauen: Denn gut sechzig Prozent der MHP-Wähler, zeigen jüngste Meinungserhebungen auf, wollen dem 69jährigen aufgrund seiner Nibelungentreue zu Erdogan den Gehorsam verweigern und stattdessen gemeinsam mit den meisten Anhängern der kemalistischen CHP sowie der kurdischen HDP ihr „Hayir!“ zur Reform einlegen – ihr „Nein!“ zu Erdogans Verfassungsänderung und dem Umbau der Türkei in eine Präsidialrepublik.

Eine von ihnen ist Meral Aksener. Die charismatische 60jährige diente in den 1990ern als erste – und bislang einzige – Innenministerin des Landes.  Eindringlich warnt sie vor den möglichen Folgen des Referendums: „In parlamentarischen Systemen besitzt man gegenseitige Kontrolle und eine Gewaltenteilung“, erklärte die Historikerin im Interview mit der BBC. „Hier jedoch gäbe es so etwas nicht. Hier haben wir ein Monstrum.“

Die Reform sieht unter anderem vor, daß der Ministerrat als Staatsorgan abgeschafft wird, dem Präsidenten fällt entsprechend das Amt des bisherigen Ministerpäsidenten zu. Breit kritisiert wird auch, daß der Präsident Minister ohne Parlamentsanhörung ernennen  oder allein über die Wahl der Universitätsrektoren entscheiden darf.

  Gemeinsam mit ihrem Parlamentskollegen Sinan Ogan warb Aksener schon frühzeitig für ein Nein unter den MHP-Wählern – und wurde deshalb, ebenso wie Ogan, von Bahçeli Ende 2016 aus der Partei gedrängt. Die Hoffnung, gut 80 Prozent der nationalistischen Wähler der Türkei auf ein Nein einstimmen zu können, haben beide trotz alledem nicht aufgegeben. Durchaus auch mit recht eigennützigen Ambitionen: Denn ein Fehlschlag der kommenden Volksabstimmung würde nicht nur Erdogans Verfassungspläne scheitern lassen, sondern auch am Thron des autokratisch über seine MHP gebietenden Bahceli sägen. Daß ihre Anhänger in Fragen der türkischen Zukunft das Zünglein an der Waage spielen könnten, ist beiden dabei wohl bewußt. „Es spielt keine Rolle, was die Parteiführung möchte“, zeigt sich Ogan kämpferisch. 

„Mich interessiert, was Gott sagt“

Auch Erdogan weiß um das schwache Fundament, auf dem sein Zweckbündnis mit den MHP-Nationalisten gebaut wurde. Nicht umsonst führen seine Wahlkampfreisen den türkischen Präsidenten gerade nach Diyarbakir – jener Stadt mit der nach Istanbul zahlenmäßig größten kurdischen Einwohnerschaft.

 Gerade in den traditionalistischen, religiös geprägten Milieus der kurdischen Minderheit sieht Erdogan sein zweites Pferd im Rennen um die Präsidialrepublik gestellt. Und tatsächlich geben Umfragen ihm recht: In einer Studie des in London ansässigen, von drei jungen Österreichern gegründeten Startup-Unternehmens Qriously bekunden mittlerweile rund 68 Prozent der Süd- und Ostanatolier ihre Sympathien für Erdogans präsidialrepublikanische Ambitionen – darunter selbst gut jeder fünfte HDP-Wähler. Landesweit liegt der Durchschnitt immerhin bei 61,4 Prozent Ja- beziehungsweise 38,6 Prozent Nein-Stimmen. 

Lediglich die Provinzen der Ägäis sowie der europäische Teil der Türkei scheinen für Erdogan bereits komplett verloren zu sein: Hier dominiert, urteilen Umfrageinstitute einhellig, die CHP mit klarem Ergebnis. Mit über 80 Prozent an Zustimmung, so Qriously, genießt der türkische Präsident dafür im Osten der Schwarzmeerprovinzen klares Heimrecht. In die Hafenstadt Rize, der Heimat seiner Familie, verlegte Erdogan von daher auch seinen bislang letzten großen Wahlkampfauftritt und schwor seine konservativen wie auch nationalistischen Anhänger noch einmal auf ihre Zweckpartnerschaft sowie die inhaltliche Annäherung von AKP und MHP ein – auch hinsichtlich der schroffen Kritik von seiten vieler europäischer Politiker am Verfassungsreferendum.

„Die Europäische Union mag das alles nicht. Aber mich interessiert nicht, was Hans, Georg oder Helga sagen“, versicherte Erdogan in Rize den unter zahllosen türkischen Bannern versammelten Zuhörern. „Mich interessiert lediglich, was Hassan, Ahmet, Mehmet, Ayse und Fatma sagen. Mich interessiert, was Gott sagt.“