© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Die Probleme nehmen überhand
Verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche: Ob von den Eltern vernachlässigt oder übermotiviert – mehr und mehr junge Menschen weisen psychische Störungen auf
Martin Voigt

Lehrer berichten, daß die Zahl verhaltensgestörter Kinder zunimmt. Als die JUNGE FREIHEIT einige Lehrer zum Thema Inklusion befragte (JF 12/17), erzählten sie kaum von den wenigen behinderten, sondern von vielen „verhaltensauffälligen“ Schülern, die den Unterricht unmöglich machten: „Die Kinder sind überfordert, ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrer zu richten. Viele Schüler haben Aufmerksamkeitsschwierigkeiten, und das betrifft nicht nur jene, die ADHS haben.“

Die neueste Studie zu Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter hat das Robert-Koch-Institut von 2009 bis 2012 durchgeführt. Ein Ergebnis der Telefonbefragung lautet: „Bei jedem fünften Kind (20,2 Prozent) zwischen 3 und 17 Jahren können Hinweise auf psychische Störungen festgestellt werden.“ 

Viele Erstkläßler sind bis 17 Uhr in der Betreuung

Die Zahl psychologisch betreuter Kinder ist ein weiterer Indikator. So teilt etwa das rheinland-pfälzische Sozialministerium der JF mit, daß die Zahl ambulanter psychiatrischer Behandlungen von Kindern und Jugendlichen zwischen 2005 und 2015 von 9.250 auf 21.536 zugenommen habe. Die Zahl der stationären Behandlungen sei von 1.260 auf 2.400 gestiegen. Etwa 18 Prozent der Kinder und Jugendlichen seien psychisch auffällig.

„Chaos an deutschen Schulen“ titelt der Focus und zitiert eine Lehrerin: Von ihren Schülern sei die Hälfte „verhaltensoriginell“, und auch ihren Kollegen fielen zunehmend Kinder mit unterentwickeltem psychosozialem Verhalten auf. „In vielen Familien sind beide Eltern berufstätig, der Familienalltag dadurch unbeständig bis chaotisch. Den Kindern fehlt es an festen Strukturen und Bezugspersonen, die ihnen Sicherheit geben, damit sie zur Ruhe kommen und sich erholen können.“

Viele Kinder seien schlichtweg vernachlässigt, warnt eine Lehrerin in der FAZ: „Wir haben in unserer Schule einige Erstkläßler, die stehen alleine auf, die bekommen kein Frühstück mit in die Schule, die Mütter, oft alleinerziehend, haben Spätschichten und kriegen es nicht auf die Reihe. Viele Erstkläßler sind jeden Tag bis 17 Uhr in der Betreuung und gehen dann alleine nach Hause. Es gibt viele Familien, da kümmert sich keiner um sie.“ Doch auch bei den Wohlstandskindern gebe es Probleme. Diese hätten zwar materiell alles, aber trotzdem höre ihnen zu Hause keiner zu, weil die Eltern beide arbeiteten und das Au-pair-Mädchen überfordert sei. Diese drehten dann morgens in der Schule richtig auf.

720.000 Kleinkinder (32,7 Prozent) besuchten 2016 laut Bundesamt für Statistik eine Krippe und fast drei Millionen Schüler eine Ganztagsschule. Jedes Jahr erleben 120.000 bis 160.000 minderjährige Kinder die Scheidung der Eltern. Die Zahl der Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern lag 2014 bei 1,6 Millionen, das sind 20 Prozent aller Familien. Patchworkfamilien machen einen Anteil von rund 14 Prozent aus (Stand 2012).

Kinder- und Jugendpsychotherapeuten wie Helene Timmermann nehmen eine Verdichtung im weit gefaßten Phänomen der Verhaltensstörung wahr. „Es kommen immer mehr Eltern mit Kindern in meine Praxis, die sich geschickt fühlen, weil im sozialen Umfeld die Probleme überhandnehmen“, sagt Timmermann, die in Hamburg eine Praxis betreibt, der JF. Auch ihre Kollegen hätten immer mehr mit dieser „Konsumhaltung“ zu tun. Der Schritt zur Psychotherapie sei oft keine auf eigene Reflexion gegründete Entscheidung mehr, sondern beruhe auf dringender Empfehlung von Lehrern oder Ärzten.

„Diese Patientenfamilien sehen die Ursache für das Verhalten ihres Kindes nicht bei sich sondern als von außen kommend. Sie halten den Lehrer oder das Schulsystem für das Problem, haben kaum Motivation, den Blick auf ihr Familienleben zu lenken, erwarten aber von uns, daß wir das Problem ihres Kindes wegtherapieren. Am besten sofort.“

Die innerfamiliären Faktoren haben den größten Einfluß auf die Psyche und das Verhalten des Kindes, sind sich Psychotherapeuten einig. Ganztagsbetreuung und Medienmißbrauch kämen dann noch hinzu. Familie, dieses dynamische Beziehungsdreieck aus Mutter, Vater und Kind mit Geschwistern ist das Betätigungsfeld der Entwicklungspsychologie und Bindungstheorie. Sie berichten zum Beispiel vom Bonding, dem Verlieben zwischen Mutter und Kind beim ersten Hautkontakt nach der Geburt. Und davon, wie der Säugling Wärme aufnehmen und an Liebe und Muttermilch satt werden will. 

Das Beziehungsweltbild prägt sich in den ersten drei Lebensjahren aus. Ab etwa einem Jahr nimmt sich das Kleinkind als eigene Persönlichkeit wahr, möchte aber bei seiner gekrabbelten Entdeckungsreise um die Eltern herum  die Gewißheit haben, wieder in den Arm der Mutter oder des Vaters flüchten zu können. Es entwickelt sensible Antennen für deren Beziehung, denn die Liebe der Eltern zueinander ist wie ein Schutzraum, wie eine Sphäre der Geborgenheit und Zuversicht, die durchs Leben trägt.

Verhaltensauffällige Schüler sind ein flächiges Phänomen. Das wirft die Frage auf, ob in Familien in letzter Zeit ebenfalls ein oder zwei konkrete Störungen der Kinderseele vermehrt zusetzen, oder ob verschiedene Störungen zunehmen und kumulativ wirken. 

Kinder verlieren Halt und Orientierung

Timmermann kann aus ihrer therapeutischen Erfahrung heraus nicht den einen gemeinsamen Nenner ausmachen, sieht aber, wie das Konfliktpotential  zunimmt, wenn etwa zu einer unausgereiften Paarbeziehung die Elternrolle hinzukommt. Die Kinder versuchten in schwierigen Situationen zu vermitteln oder spielten die Eltern gegeneinander aus. Dabei verlören sie aber Halt und Orientierung und verstrickten sich in Loyalitätskonflikten. „Nicht zu unterschätzen sind körperliche oder psychische Erkrankungen der Eltern, die die Familie belasten und die ihrerseits schon transgenerational, über unbewußte Identifikationen oder Delegationen, an die Kinder weitergegeben werden.“

Verunsicherte, teils perfektionistische Eltern seien die Zielgruppe einer regelrechten Ratgeberindustrie, meint die Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger (JF 26/16). Das unspektakuläre gemeinsame Erleben als Familie bleibe in der sich permanent auf Reizsuche befindenden Konsumgesellschaft auf der Strecke. Dabei sei die feste Verwurzelung der Kinder in ihrer Familienidentität unerläßlich, um ihnen im liebevollen Kontext feinfühlige und altersadäquate Grenzen setzen zu können. Eltern „mutieren oft lieber zu Beratern ihrer Kinder, wenn nicht gar zu deren ‘Freunden’, als Autoritäten im wohlverstandenen Sinne zu sein.“ Ihr Ehrgeiz steigere sich teils in „Förder-Wahnsinn“. An der Fähigkeit zur „Konzentration, Aufmerksamkeit, Selbstorganisation, Beharrlichkeit“ mangele es, wenn Kinder „als Prinz oder Prinzessin behandelt“ wurden.

In den achtziger Jahren entbrannte in den USA eine Debatte um die Frage, warum innerhalb weniger Jahre Kinder und Jugendliche an sozioemotionaler Kompetenz verloren hatten. Eine Längsschnittstudie hatte die öffentliche Wahrnehmung einer seit den siebziger Jahren signifikanten Zunahme von depressiven, unkonzentrierten, mürrischen, verschlossenen, aufbrausenden und aggressiven Schülern bestätigt. Das National Institute of Child Health and Development begleitete dann in einer breit angelegten Studie über 1.300 Kinder aus weißen Mittelschichtfamilien über 15 Jahre hinweg. Ergebnis: Das gesamte Spektrum dissozialen Verhaltens und der Störungen emotionaler Kompetenz stehe in direktem Zusammenhang mit dem Beginn und der Dauer außerhäuslicher Fremdbetreuung, unabhängig von der Qualität der „child care“.

„Die Wiener Krippenstudie hat den Befund bestätigt“, sagt der Hallenser Psychiater Hans-Joachim Maaz der JF. „Im Speichel der Kinder konnte das Streßhormon Cortisol in viel zu hohen Werten gemessen werden, egal wie freundlich die Umgebung war. Das ist eine direkte Panik- und anhaltende Angstreaktion auf die Abwesenheit der Mutter.“ Die dauerhafte Belastung des kindlichen Organismus mit Cortisol kann eine chronisch gestörte Streßregulationsfähigkeit sowie seelische Erkrankungen zur Folge haben (JF 28/14).

„Die frühe Trennung von der Mutter über Stunden und jeden Tag aufs neue kann kein Kind verkraften, auch wenn es äußerlich nach der sogenannten Eingewöhnungsphase stabil wirkt“, so Maaz. „Kein Kind kann monatelang brüllen. Es resigniert, doch die traumatischen Erfahrungen addieren sich. Das frühkindliche Gehirn kann nicht lernen, daß die Mutter abends wiederkommt.“ Die Zunahme verhaltensgestörter Schüler stünde im Kontext zum Ausbau der U3-Fremdbetreuung, ist sich Maaz sicher. Es herrsche ein ideologischer und ökonomischer Druck auf Mütter, ihren Kindern die vermeintliche „frühkindliche Bildung“ nicht vorzuenthalten. 

Abstrus sei auch das pauschale Argument von vernachlässigten Kindern, die in Krippen besser aufgehoben wären. „Natürlich gibt es Familien, in denen einiges schiefläuft“, räumt der Autor des Buchs „Die narzißtische Gesellschaft“ ein, „aber aus Kindessicht ist jede Mutter die erste Liebe, auch wenn diese vom Herzen her nicht ganz bei ihrem Kind sei“. Zu den innerfamiliären Streßfaktoren käme das tägliche Verlusttrauma lediglich hinzu.

Laute Rufe nach noch mehr Betreuungsstätten

Daß tragische Fälle von Verwahrlosung ins Feld geführt würden, um den flächendeckenden Krippenausbau zu rechtfertigen, zeige, welche psychologische Verweigerungshaltung dieses Anliegen ummantele. „Frühe Bindung, Mütterlichkeit, Liebe zu den Eltern, Liebe zum Kind, das sind hochemotional besetzte Bilder, die an das neurotische Potential in unserer Gesellschaft rühren und Abwehrreaktionen provozieren“, sagt Maaz, der mit 24 Kollegen einen Appell gegen die staatliche Krippensubvention unterzeichnet hat.

„Wenn jetzt schon Lehrer Alarm schlagen, wird es Zeit, die Familie aus der Perspektive des Kindes neu in den Blick zu nehmen“, fordert Maaz und schildert seine Erfahrung aus der Elternschulung. Es gehe nicht um eine modernere Pädagogik, ein intensiveres Bemühen um die Kinder oder um die Mär von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sondern darum, die Einstellung zum Kind und eigene Kindheitserfahrungen zu hinterfragen. „Wo sind meine tiefsten Wunden?“ müßten sich Eltern fragen, da sie ihre Erfahrung häufig „völlig unreflektiert an die eigenen Kinder im Guten wie im Schlechten weitergeben“, so Maaz. „Das elterliche Bemühen nützt nichts, wenn ich mich emotional nicht angemessen auf mein Kind einlassen kann. Auch gutgemeinte Familienpolitik läuft am Ziel vorbei, wenn das innere Kind der Entscheidungsträger Verletzungen abkapselt und etwa eine Aversion gegen das Mütterliche in die Politik einfließen läßt.“

Von CDU bis Linkspartei ist Familienförderung ein Synonym für außerfamiliäre Betreuung. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) kündigte Ende März an, mit über einer Milliarde Euro 100.000 weitere Kita-Plätze zu schaffen. Den Grünen ist das zuwenig. Doch auch der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes BDA, Steffen Kampeter (CDU), setzt Akzente und fordert mehr Ganztagskitas und Ganztagsschulen.