© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Der Weg zur inneren Freiheit
Wertegemeinschaft: Christen sind Tugenden verpflichtet, die zu allen Zeiten gelten
Eberhard Straub

Es gibt längst einen Primat der Politik. Sie durchdringt als Atmosphäre das gesamte öffentliche und private Leben. Alles läßt sich mühelos politisieren, auch die Religion und die Kirchen. Wer versucht, sich mit ironischer Distanz aus den Unberechenbarkeiten der politisch Aufgeregten herauszuhalten, macht sich verdächtig, ein unzulänglicher Mensch und mangelhafter Demokrat zu sein. Denn jeder wird ununterbrochen dazu angehalten, nicht wegzuschauen, sondern sich einzumischen. Das ist unvermeidlich, seit der Rechtsstaat zur Wertegemeinschaft überhöht wird, die in zivilreligiöser Andacht sich um das Grundgesetz als Heiliges Buch schart. Eine der großen Errungenschaften in der europäischen Geschichte, nämlich die scharfe Trennung zwischen privat und öffentlich, gerät darüber in Gefahr, weil es nichts Privates mehr geben kann, wenn alles Denken und Tun von öffentlicher Bedeutung ist und öffentlicher Kontrolle unterliegt.  

Eine eminent private Angelegenheit, wie die erotischen Vorlieben, wird mittlerweile wie eine öffentliche behandelt.  Eine bislang als öffentlich anerkannte Angelegenheit, nämlich das religiöse Bekenntnis, wird hingegen immer entschiedener als Privatsache aus der Öffentlichkeit verdrängt. Ein Bekenntnis in den eigenen vier Wänden ist keines. Der Glauben setzt voraus, ungehindert in aller Öffentlichkeit bekannt werden zu dürfen. Deshalb wird Religionsfreiheit garantiert. Mit dem Verschwinden des Unterschieds von privat und öffentlich geht ein weiteres Merkmal herkömmlicher europäischer Lebensvorstellungen verloren: der Gegensatz von innerlich und äußerlich und mit ihm die Überlegenheit des inneren Reiches gegenüber sämtlichen äußerlich-praktischen Ordnungen.

Das Reich der Sittlichkeit ist umfassender

Es gehörte noch zu den selbstverständlichen Überzeugungen des klassischen Liberalismus, daß die beiden großen Mächte im sittlichen Leben, Religion und Kultur, der göttliche Geist und das philosophisch-ästhetische Denken, sich unabhängig vom Staat entfalten. Denn das Reich der Sittlichkeit ist viel umfassender als das Reich des Staates.  Will der Staat dasselbe beherrschen, so überschreitet er die Schranken, die ihm gesetzt sind, und wirkt schädlich für die  Sittlichkeit, worüber sich liberale Juristen einig waren. Es genügt, wenn der Bürger sich in den äußeren Rahmen der öffentlich-staatlichen Ordnung fügt. Was er in seinem Inneren über diese denkt, geht keinen etwas an. Es gibt das Recht auf inneren Vorbehalt bei aller äußerlichen Anerkennung äußerlicher Gegebenheiten. Das freie Gewissen, eine innere Stimme, ist die höchste Autorität. Das Gewissen ist die Sonne seines Sittentags, wie Schiller es feierlich nennt. Den Christen galten Staat und Gesellschaft von vornherein als „weltlich Ding“, obschon sie gar nicht daran zweifelten, daß die Obrigkeit und das politische Regiment von Gott eingesetzt sind. 

Sie hielten sich deshalb an den verbindlichen Ratschlag Christi, dem Kaiser und dem Staat zu geben, was ihm zusteht, also den Gesetzen zu gehorchen, soweit sie nicht das freie Gewissen nötigen und sich unterordnen wollen. Jedem Staat schuldeten sie diesen Respekt, ob heidnisch oder christlich. Es gab keine Staatsform, die vom Evangelium gefordert oder von der Kirche als ihre weltliche Ergänzung betrachtet wurde.

Alle politischen Formen sind in der Welt als Geschichte dem Wandel unterworfen, vorläufig und vergänglich. Davon waren auch die großen Staatsmänner längst vor den Christen überzeugt. Mit dem Untergang Trojas beginnt unsere Geschichte. Sie ist eine Abfolge von Untergängen. Scipio Africanus, der 146 v. Chr. Karthago besiegt und zerstört hatte, überwältigten beim Anblick der Ruinen dieser einst mächtigen Konkurrentin Vorahnungen vom Untergang Roms. Das Ende der antiken Welt und der mit ihr verbundene Kulturbruch blieben unvergessen.

Werte werden als immer gültig ausgegeben

An die unvermeidliche Vorläufigkeit sämtlicher geschichtlich-politischer Formen mögen die heutigen „Gestalter der Zukunft“ nicht erinnert werden. Sie reden deshalb nur ungern vom Recht und vom Staat, sondern sprechen von Werten und der Wertegemeinschaft. Beides soll Beständigkeit suggerieren und Halt versprechen. Denn Werte werden als zeitlos und immer gültig ausgegeben. Eine werterfüllte und wertvolle Gemeinschaft soll von der Macht der Zeit mitten in der Zeitlichkeit unberührt bleiben. Herrschen die ewigen Werte, dann ist das Ende der Geschichte erreicht, sie ist an ihr Ziel gelangt und braucht keine Untergänge mehr zu fürchten.

Die Wertegemeinschaft beansprucht deshalb, jedem Wandel entrückt zu sein, mehr als die Kirche zu sein, die nur eine Vorahnung von der Ewigkeit jenseits aller irdischen Befangenheiten vermittelt. Stehen wehrhaft die Menschenfreunde, weise, weil aufgeklärt, tolerant und unberührt vom Aberglauben, zusammen, „dann ist die Erd’ ein Himmelreich“ und die Sterblichen „den Göttern gleich“, wie es in der „Zauberflöte“ heißt, der Deutschen liebste Oper.

Die Wertegemeinschaft nähert sich einer geistigen communio, einer weltliche Kirche. Die Christen kannten nie Werte. Sie sind Tugenden verpflichtet, die vom göttlichen Geist beseelt zu allen Zeiten befolgt werden müssen. Tugenden werden gelebt, Werte werden gesetzt. Sie hängen von den Absichten der Wertsetzer ab, die andere Werte in der dauernden Konkurrenz der Wertsetzer umwerten, abwerten, aufwerten oder entwerten. Hinter jedem Wert steht ein Interesse, dem sein Wertsetzer unbedingtes Ansehen verschaffen möchte. Die moralische Aufrüstung der Werte als überzeitliche Glaubenswahrheiten dient dem Zweck, von ihrer zeitbedingten Verwertbarkeit abzulenken. Alles ist relativ, so heißt es immer wieder. Es gibt keine absolute Wahrheit, keine göttliche Wahrheit und keinen persönlichen Gott, der die Wahrheit ist. Aber die Werte werden dennoch wie Wahrheiten verkündigt, denen sich keiner verschließen darf, will er sich nicht als Wertverwahrloster in der Wertegemeinschaft disqualifizieren. 

Doch diese läßt keinen allein. Fürsorglich kümmert sie sich um seine Umerziehung und Einübung in soziale Kompetenzen, die Folge endlich errungenen Wertebewußtseins. Die Wertegemeinschaft ist erfüllt von pädagogischem Eros, sie ist eine Erziehungsgemeinschaft. Denn wer sich ihren Werten entzieht, „verdienet nicht ein Mensch zu sein“. Damit droht der Humanist Sarastro in der „Zauberflöte“ jedem Unbelehrbaren. Es sind die Menschenfreunde, die darüber befinden, wer verdient, ein Mensch zu sein. Das ist eine ungeheure Selbstermächtigung. Sie erlaubt es den resoluten Hütern der Wertegemeinschaft, in das innerste Reich des Sittlichen einzugreifen und Gedanken zu kontrollieren und möglichst in Übereinstimmung mit den geltenden Werten zu bringen. Da die Werte der Diskussion entrückt sind und im Wertvollzug sich wahre Mitmenschlichkeit unter wahren Menschen bestätigt, ist eine rationale Homogenisierung und Normierung der unerschöpflichen Individuen erforderlich.

Die frohe Botschaft scheint vielen nicht mehr zeitgemäß

Gott und Christus haben sich nicht an den Menschen, sondern an unendlich viele Menschen, unterschiedliche Menschen gewandt. Der christliche Glauben ist ein ganz bestimmtes, unwiederholbares Drama Gottes mit der einzelnen Seele. Christus trat nicht in die Welt als Geschichte, um mit seinem Leben, Tod und seiner Auferstehung eine europäische, westliche oder globale Wertegemeinschaft vorzubereiten. Jesus als der Retter und Christus eines jeden Sünders, das ist die Quintessenz des Christentums. Diese frohe Botschaft scheint offenbar vielen Christen und ihren geistlichen Hirten nicht mehr zeitgemäß. Sie wollen unbedingt tätige Glieder in der Wertegemeinschaft sein.

Christus mahnte einst die geschäftige Martha, sich mit ihrer Betriebsamkeit nicht von ihrer Bestimmung zu entfernen, zum Frieden und der Freiheit in Gott zu finden. Nach innen führt der geheimnisvolle Weg, den Marthas Schwester Maria einschlug, die auf den Herrn horchte. Heute sollen alle wie Martha politisch leben. Geistliche und Bischöfe mahnen zu sozialpolitischen, kulturpolitischen oder geschichtspolitischen Aktivitäten und verweisen den Christen auf die politische Wertegemeinschaft als Heilsgemeinschaft, die Gnaden spendet und dem Christen als Wertgläubigen soziale Relevanz gewährt. Es gibt keinen Schutz mehr vor der Übermacht der Politik. Die Kirche und das Christentum sollten zu einer inneren Freiheit und Selbständigkeit führen. Ratlose und hilflose Christen, Pfarrer und Priester, verkünden eine politische Theologie, die Freiheit eines Christenmenschen durch die Politik, die sich als irdischer Gott eine Macht anmaßt wie der Antichrist. Aber von dem ist nicht mehr die Rede, seit Christus höchstens zur Chiffre für aufrichtiges Wertebewußtsein schrumpfte.