© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Luther als nützliches Instrument der Fürstenherrschaft
Faustische Zerrissenheit
Marco F. Gallina

Der Mythos ist unserer Zeit fremd geworden. Ein relativistisches Zeitalter kennt weder Größe noch Pathos. Es schließt daher prinzipiell jedes Heldentum aus. Die Geschichtswissenschaft, die noch am Anfang des 20. Jahrhunderts Persönlichkeiten wie Wellington, Bismarck oder Napoleon als „große Männer“ auf den Schlachtrössern der Weltgeschichte reiten sah, macht davon ebensowenig eine Ausnahme wie die Amtskirchen beider Konfession. Daß Luther, der ab 1871 von der nationalen Geschichtsschreibung zu einem „deutschen Helden“ stilisiert wurde, ein ähnliches Schicksal widerfuhr, mag nicht verwundern; besonders nicht im Angesicht der Suche nach dem „Sonderweg“ in der deutschen Geschichte. Luthers Antijudaismus war – und bleibt – eine bequeme Wahrheit für jene Angreifer, die eine Kontinuitätslinie von der Reformation bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts schlagen.

Eine Rehabilitation Luthers als „Prophet der Deutschen“ widerspricht dem Zeitgeist. Die Deutschen haben sich von dieser Schicksalsfigur entfremdet. Medien, Politik und Kirche entstellen den Reformator zur Unkenntlichkeit. Es sind Zeiten, in denen eine amtierende Bundesfamilienministerin verkündet, daß Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ direkt in die Moderne führe: nämlich zur „Würde des Menschen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion und sexueller Orientierung“. Die Groteske äußert sich weniger darin, daß die Ministerin wohl weder vom Katholiken- oder Türkenhaß des Reformators weiß, als vielmehr in der nüchternen Feststellung, daß die EKD sich vermutlich ähnlich geäußert hätte. Über die Einstellung eines bibeltreuen Theologen der Frühen Neuzeit zur Homosexualität oder gar der Einführung einiger Dutzend neuer Geschlechter mag man erst gar nicht spekulieren.

Gerade weil Luther so unzeitgemäß wirkt – nicht anders war es im 16. Jahrhundert –, ergeben sich einige Anknüpfungspunkte zu den heutigen „Ewiggestrigen“. Er schaute dem „Volk aufs Maul“, polterte und donnerte – ein Ärgernis in Zeiten von „No hate speech“ und anderer politischer Korrektheiten. Der Mönch aus Wittenberg nahm es mit Papst und Kaiser auf; ein Vertreter der Sache des Volkes gegen die Elite. Luther, ein deutscher Populist, der sich gegen die Fremdherrschaft Roms wehrte – eine Steilvorlage für den heutigen Widerstand gegen Brüssel und die immer enger werdende Europäische Union! Schon die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hatte diesen nationalen Charakter deswegen betont, weil das junge Deutsche Reich gleich zwei „welsche“ Gegner hatte: das auf Revanche sinnende Frankreich einerseits und den im Kulturkampf bekriegten Papst andererseits. Die Behauptung Luthers gegen Rom wurde zur Selbstbehauptung Deutschlands in der Welt. War Luther also der frühneuzeitliche Vorkämpfer eines „Make Germany Great Again“?

Die Reformation wurde bald ein Elitenprojekt von Fürsten und Intellektuellen. Die Reformation ermöglichte den kleinsten Grafen, sich an Kirchengut zu bereichern, ihr Territorium zu erweitern und loyale Geistliche an die Position romtreuer Priester zu setzen.

Die Wiederbelebung Luthers als Nationalheld bringt dieselben Problematiken, dieselben Widersprüche mit sich, welche schon der preußischen Verherrlichung zugrunde lagen. Der Mythos dient der Erzählung; er bricht aber oftmals an der historischen Wahrheit. Bereits der Versuch, Luther als Vertreter von Volksinteressen zu interpretieren, hält so den historischen Fakten nicht stand. Stützten sich die Aufständischen der Bauernkriege zuerst noch auf Luthers Thesen, so war es der Reformator selbst, der sich von den Rebellen distanzierte und den Fürsten freie Hand gegen die „Mordischen und Reubischen Rotten“ gewährte: „man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muß“. Spätestens nach dem Massaker von Frankenhausen (1525) war die Reformation in erster Linie ein Elitenprojekt von Fürsten und Intellektuellen geworden. Aus Sicht der Territorialherren war Luther kein Held, der es allen zeigte, sondern ein nützliches Instrument zur Durchsetzung von Interessen.

Ebenso erscheint der Topos des Aufbegehrens gegen Fremdherrschaft irreführend. Luthers Gegenspieler waren fast ausnahmslos Deutsche. Die Fürsten hatten zuvor mit Tetzel und anderen Ablaßhändlern paktiert, um daraus Gewinn zu ziehen. Das „päpstliche Joch“ war gewinnbringend für beide Seiten, die Auflösung des Handels rein machiavellistischen Gründen geschuldet; die Reformation richtete sich aus fürstlicher Sicht gar nicht so sehr gegen Rom als gegen den regionalen Klerus und den römisch-deutschen Kaiser. Nicht umsonst äußerte sich der „Protest“ vornehmlich bei Reichstagen.

Die Reformation ermöglichte selbst den kleinsten Grafen, sich an Kirchengut zu bereichern, ihr Territorium zu erweitern und loyale Geistliche an die Position romtreuer Priester zu setzen. Luther trennte damit Staat und Kirche nicht voneinander: statt dessen avancierten die Fürsten zu Chefs der Landeskirchen. Der moralische Anspruch, den Bischöfen mit ihren borgiaesquen Auswüchsen ein Ende zu setzen, mutet unglaubwürdig an, wenn man sich den Lebenswandel eines Ulrich von Württemberg vor Augen führt, der mit Mord, Krieg und Diebstahl sein Herzogtum beträchtlich erweiterte.

Oft vergessen wird dabei der Widerstand des einfachen Volkes, welches vermeintlich auf Luthers Seite stand. Für die gemeinen Leute war die Reformation eine „Revolution von oben“. In Nürnberg beschloß nicht das Volk, sondern der Stadtrat aus Patriziern die Einführung der Reformation, gegen die sich die Nonnen des Klarissenkonvents heftig wehrten: „Es wäre uns lieber und nützlicher, Ihr schicktet einen Henker in unser Kloster, der uns allen die Köpfe abschlüge, als daß Ihr uns einen vollen, trunkenen, unkeuschen Pfaffen zuschickt.“ Graf Konrad von Tecklenburg hinderte seine Untertanen an der Wallfahrt; als sich die Pilger über das Verbot hinwegsetzten, ließ er demonstrativ die Bildstöcke von Knechten niederreißen. Obwohl Luther keine konsequente Linie bezüglich des Bilderverbotes verfolgte, beriefen sich die Fürsten bei der Entfernung von Heiligenbildern auf seine Lehren – sehr zum Leidwesen einstiger Meßbesucher, die „ihren“ Patronen nachtrauerten.

Die Szenen stehen beispielhaft dafür, daß der lutherische Glaube nicht mehr Freiheiten „gegen die da oben“ ermöglichte, sondern ganz im Gegenteil die landesherrliche Macht über die Untertanen nun auch in kirchlichen und moralischen Belangen zuließ.

„Cuius regio, eius religio“ war dabei nicht nur ein fürstlicher Leitspruch. Ökumenische Gedanken blieben Luther fremd, Andersgläubigen riet er statt dessen zur Auswanderung. Beispielhaft bleibt die Reaktion des Reformators auf die Plünderung Roms im Jahr 1527: Kaiserliche Söldner – darunter deutsche Landsknechte, die unter der Engelsburg mehrfach „Es lebe Papst Luther!“ anstimmten – vergewaltigten, folterten und töteten drei Tage lang nach Belieben die Einwohner der Ewigen Stadt. Moderne Schätzungen gehen von sechs- bis zehntausend Todesopfern unter der römischen Stadtbevölkerung aus. Luther nahm das Ereignis mit Genugtuung zur Kenntnis und ordnete das Massaker als gerechte Strafe Gottes gegen seine Feinde ein.

Die alte Frage, inwiefern Luther ein Teil der katholischen Geschichte sei, ähnelt damit der Gretchenfrage, ob die Türkei zu Europa gehöre; der Einfluß ist spürbar, äußerte sich jedoch immer in Gegenwehr und Abgrenzung. In jüngerer Zeit deuteten die Medien die Benennung eines römischen Platzes nach Martin Luther als „Symbol“. Ein Symbol ist jedoch auch die seit 1949 existierende Stalingradallee in Bologna.

Es bleibt ein Kunstkniff der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung, mit keinem Wort die mit Abstand größte Katastrophe für die Einheit des Reiches klar zu benennen: dessen Zerfall in katholische und evangelische Interessengemeinschaften.

Wer demnach den klassischen Luther­mythos des 19. Jahrhunderts weckt, muß sich auch darüber bewußt sein, wie dieses Bild des „Helden“ entstand. Die nationale Geschichtsschreibung des Zweiten Kaiserreichs war ihrem Charakter nach preußisch und mußte demnach lutherisch sein, war doch Preußen aus dem säkularisierten Rest des Deutschordens herausgeboren. Der Hochmeister Albrecht von Hohenzollern wandelte das Territorium eines abendländischen Ritterordens aus machtpolitischem Kalkül – und auf Luthers Anraten – zu einem Herzogtum um. Im Grunde ein Skandal, an den sich der Eidschwur auf den polnischen König anschloß. Ein deutscher Fürst wird Vasall eines ausländischen Herrschers, nachdem er das Erbe eines der prestigeträchtigsten Orden des Mittelalters verschacherte; Abschüttelung von Fremdherrschaft und Rückkehr zum wahren Glauben sehen anders aus. Aus preußischer Sicht bleibt dies hingegen ein Glanzpunkt deutscher Geschichte.

Preußens Geschichte mag symbolisch für den Topos stehen, Luthers Wirken hätte Deutschland oder die Deutschen gegenüber dem Ausland gestärkt. Die Zersplitterung des Reiches in konfessionell gespaltene Territorien führte zu Zank und Streit und legitimierte Entthronungen, Verbannungen, Gebietsansprüche und Kriege. Die Reformation schwächte aber vor allem die Lage des (katholischen) Kaisers. Auf Reichstagen mußten Kompromisse zwischen den Lagern geschlossen werden. Die nichtkatholischen Fürsten schmiedeten mit ausländischen Glaubensbrüdern Bündnisse; aus Angst vor dem Kaiser, der seine Macht im 17. Jahrhundert ausweiten und den Reichsverband stärken wollte – was in den Dreißigjährigen Krieg samt katastrophaler schwedischer Intervention mündete.

Es bleibt ein Kunstkniff der preußisch-deutschen Geschichtsschreibung, jedes einzelne mittelalterliche Privileg heranzuziehen, welches die „Zersplitterung“ des Reiches verursacht habe – aber mit keinem Wort die mit Abstand größte Katastrophe für die Einheit des Reiches klar zu benennen: nämlich dessen Zerfall in katholische und evangelische Interessengemeinschaften. Im deutschen Dualismus zwischen dem protestantischen Brandenburg-Preußen und dem katholischen Kaiserhaus zu Österreich-Habsburg erhält Friedrich II. bis heute einen Ehrenplatz, obwohl er sich wie Luther gegen das Reich, den Reichstag und den Kaiser stellte; also generell gegen das, was die Zeitgenossen als Reichsverband verstanden. Dies bedeutete jedoch im eigentlichen Sinne: Vaterlandsverrat.

Luther ist daher zuletzt auch Symptom einer faustischen Zerrissenheit, die sich physisch in der territorialen Spaltung Deutschlands über die Jahrhunderte niederschlägt. Damit ist er in der Tat ein „Prophet der Deutschen“. 






Marco F. Gallina, Jahrgang 1986, studierte in Bonn und Verona Italienische Literatur, Politikwissenschaft und Geschichte mit Schwerpunkt auf europäischer Diplomatiegeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit (Reichsgeschichte, Italien). Die Masterarbeit schrieb er über Machiavelli als Botschafter. Derzeit Doktorand, nebenbei freier Autor und Betreiber des „Löwenblogs“ www.marcogallina.de.

Foto: Porträt Martin Luthers aus einem Cranach-Gemälde als Magnet-Souvenire: Der Professor aus Wittenberg hatte viele Gesichter. Ein Freiheitskämpfer gegen „die da oben“ und Vertreter von Volksinteressen war er jedenfalls nicht.