© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Es ist Krieg, und keiner geht hin
Nach ihrer Niederlage an der Westfront im April 1917 erschütterte die französische Armee eine große Meuterei
Karl-Heinz Schuck

An der Westfront hatte sich Anfang 1917 nach zweieinhalb Jahren Stellungskrieg bis dahin keine Seite einen entscheidenden Vorteil verschaffen können. Der alliierte Oberbefehlshaber General Robert Nivelle wollte daher in der Nähe von Reims, am Höhenzug des Chemin des Dames, den kriegsentscheidenden Durchbruch durch die deutschen Linien erzwingen – und dies „mit einem einzigen Schlag innerhalb 24 oder 48 Stunden“. 

Jedoch wurde die Stärke der deutschen Verteidigung, die sich hinter zahlreichen massiven betonierten Befestigungen und riesigen Stacheldrahtfeldern sowie in tiefgestaffelten Gräbensytemen den Franzosen entgegenstellte, unterschätzt. Darüber hinaus hatte man auf deutscher Seite Kenntnis von der geplanten Operation erlangt, wodurch der geplante Überraschungseffekt zunichte gemacht war. Als Ergebnis scheiterte der Mitte April auf vierzig Kilometer Frontbreite vorgetragene Angriff vollständig, trotz einer zehntägigen Artillerievorbereitung, in der die französische Artillerie fünf Millionen Granaten verschoß. 

Die mehr als eine Million bereitgestellten Soldaten erlitten eine blutige Niederlage. Die Infanterie blieb zumeist im Feuer aus zahlreichen deutschen Maschinengewehrnesternliegen. Innerhalb zwei Wochen verloren die Franzosen fast 150.000 Mann, Ende April begannen die ersten Auflösungserscheinungen. Anfang Mai wurden die Angriffsbemühungen noch einmal aufgenommen, aber nach drei Tagen endgültig eingestellt. Mitte Mai mußte Nivelle seinen Platz an der Spitze der Armeeführung räumen und wurde durch General Philippe Pétain ersetzt. Nicht einmal acht Tage später brach eine Revolte in großem Umfang aus.

General Petain konnte die Ordnung wiederherstellen

An den Meutereien beteiligten sich im Mai und Juni 1917 insgesamt 54 Divisionen, und das französische Heer geriet in seine größte Krise. Möglicherweise wurden die Meuterer auch durch die zuvor stattgefundene russische Februarrevolution beeinflußt, gehörte doch zu den Merkmalen in vielen Fällen „das Schwingen roter Fahnen“ und das Singen der Internationale, der Ruf nach Frieden und die Drohung auf Paris zu marschieren. In einigen Einheiten bildeten sich Soldatenräte. Die schlechten Lebensbedingungen in den Schützengräben, die als schlecht angesehene Bezahlung und die häufigen Urlaubssperren bei einer sowieso restriktiv gehandhabten Urlaubspolitik vertieften den Groll der Poilus. Die Einheiten weigerten sich, die Stellungen zu beziehen und blieben in der Etappe. Ihren Offizieren gegenüber verhielten sie sich die Meuterer aber weitestgehend korrekt und behandelten sie mit dem gebührenden militärischen Respekt. 

Pétain setzte sofort alles daran, die Ordnung wiederherzustellen. Es wäre schlicht unmöglich gewesen, alle beteiligten Schuldigen zu bestrafen – aber es wurde als unerläßlich angesehen, Befehlsgewalt durchzusetzen und die Disziplin wiederherzustellen. Man verlegte sich auf die Argumentation, die Meuterei sei von Rädelsführern angestiftet worden, die man nun anklagen wollte. 23.000 Meuterer ließ er verurteilen, von denen 432 mit der Todesstrafe abgeurteilt wurden. Eine tatsächliche Exekution fand jedoch nur in etwa fünfzig Fällen statt. Oftmals machte der französische Präsident Raymond Poincaré von seinem Recht zur Begnadigung Gebrauch. Dies bedeutete lange Haftstrafen, oftmals mit Zwangsarbeit verbunden.

Neben den Bestrafungen wurden aber auch Reformen in die Wege geleitet: General Pétain besuchte viele Divisionen und hörte sich dort persönlich die Beschwerden seiner Soldaten an. Danach wurde das Urlaubswesen neu geregelt, die Qualität der sanitätsdienstlichen Versorgung und der Verpflegung, sowie die Unterbringung in Regenerationslagern verbessert. Das Verteidigungssystem wurde neu organisiert, so daß die Truppen Rückzugsmöglichkeiten in gesicherte, hintere Linien hatten. Dies reduzierte insbesondere die Verluste bei Artilleriebeschuß.

Als Resultat des inneren Zustandes der französischen Armee hatten nun die Briten im weiteren Verlauf des Jahres 1917 die Hauptlast der Kämpfe zu tragen. In der Folgezeit verzichtete die französische Armeeführung auf verlust-reiche Offensiven, und man verlegte die Strategie auf Halten der erreichten Stellungen bis zum Eintreffen der mittlerweile in den Krieg eingetretenen US-Amerikaner und die Verfügbarkeit neuer, leistungsfähiger Waffensysteme, wie zum Beispiel Panzer. Angriffe sollten nur noch in begrenztem Umfang erfolgen. Erst im Frühjahr 1918 war die französische Armee wieder nahezu bei ihrem ursprünglichen Leistungsstand angelangt. Aus ihrer Sicht betrachtet war dies gerade rechtzeitig zum Beginn der großen deutschen Offensiven im März.

Ob nun die deutsche Seite überhaupt Kenntnis von den Meutereien der französischen Einheiten hatte, ist unter Historikern umstritten. Überwiegend besteht die Ansicht, daß man die Schwächung des Feindes nicht rechtzeitig erkannte und so vielleicht eine große Chance ungenutzt verstrich. Wenige Stimmen gehen davon aus, daß die deutsche Führung von den kollektiven Verweigerungen wußte, aber bewußt nicht angreifen ließ – aus Angst, die Meuterer könnten auch die deutschen Truppen „anstecken“. Verschiedene Forschungen sehen die Meutereien nicht als grundsätzliche Einsatzverweigerung, sondern nur als Verweigerung sinnloser Angriffe. Einem feindlichen Angriff hätte man sich durchaus entgegengestellt.

Künstlerisch aufgegriffen wurden die dramatischen Vorgänge in dem Roman „Paths of Glory“ von Humphrey Cobb, der 1957 von Stanley Kubrick mit Kirk Douglas in der Hauptrolle verfilmt wurde und in Deutschland als „Wege zum Ruhm“ bekannt ist.