© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/17 / 14. April 2017

Die Mittelschicht als Lastesel der Gesellschaft
Der „Süddeutsche“-Redakteur Alexander Hagelüken über die wachsende wirtschaftliche Spaltung in Deutschland
Wulf-H. Möller

Keine Gesellschaft kann es sich ungestraft leisten, eine beträchtliche Zahl von Menschen auszuschließen!“ Mit diesen Worten trifft Ralf Dahrendorf den Kern des gegenwärtigen deutschen Zustands. Dabei wirken die Deutschen auf den ersten Blick wie „Kraftmeier“, urteilt der Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, Alexander Hagelüken. Andere europäische Nationen bewunderten, wie man hierzulande die Finanzkrise gemeistert habe. Doch das alles sei nur oberflächlich, die Schattenseite präsentiere eine andere Realität: die Fundamente der Gesellschaft bröckelten.

Deutschland sei, so Hagelüken, heute wirtschaftlich und gesellschaftlich ein gespaltenes Land. Zu lange hätten hier vor allem jene profitiert, die schon genug haben. Die Vermögenseinkommen seien von 2000 bis 2014 um 30 Prozent gestiegen, viermal so stark wie die Löhne. Besonders dramatisch sei die Erosion der Mittelschicht, deren Arbeiter, Angestellte und Beamte jahrzehntelang Wachstum und Demokratie sicherten und deren „verfügbares Jahreseinkommen laut DIW zwischen 70 und 150 Prozent des realen Durchschnittshaushaltseinkommens läge“.

Die Einkommen klaffen stärker auseinander denn je

Jetzt schrumpfe diese Mittelschicht, ihre Einkommen stagnierten und reduzierten sich teilweise um 50 Prozent. „Mit Kaltschnäuzigkeit strichen zum Beispiel Parteien in Landtagen Beamten das Weihnachtsgeld als 13. Gehalt, das Urlaubsgeld, kürzten Beihilfe und Pension“, klagt der Journalist.

Deutschland sei heute ein Land, in dem die Reichen viel mehr angehäuft hätten als in vergleichbaren Staaten. Selbst nach Jahren des Booms besitze der Durchschnittsdeutsche weniger als ein Spanier, Portugiese oder Grieche. Das gelte auch für den Immobilienbesitz, das „kleine Häuschen“ sei in Deutschland nach wie vor Wunschtraum, „die Mehrheit der Bevölkerung bei uns sind Mieter“. Von daher ist nach Sicht Hagelükens die Bundesrepublik Deutschland eine Nation deprimierender Gegensätze:

• Die Arbeitsmöglichkeiten sind groß, doch die Einkommen klaffen stärker auseinander denn je

• Als gesundheitsbewußtes Volk sterben ärmere Bürger zehn bis zwanzig Jahre früher als Vermögende

• Das Land gilt zwar als Exportweltmeister, doch die Förderung benach-teiligter Kinder zu Fachkräften finde nicht statt 

Es könne nicht sein, „daß in einem Land wie Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten lebten“. In kaum einem Land wie Deutschland bestimme die Herkunft so sehr wie bei uns, was aus einem werde. Inwieweit das auf den Hund gekommene Bildungssystem diesem Zustand abhelfen kann, daß seit vierzig Jahren im Niveau verflachen und zahlungskräftige Eltern zunehmend in den teuren Privatschulsektor ausweichen, beantwortet Hagelüken dagegen  nicht ausreichend.

Zu viele Normalverdiener fragten sich, warum sie immer mehr Steuern zahlten, wenn Westeuropas obere Zehntausend Billionen von Euro in steuerbegünstigten Offshore-Paradiesen bunkerten. Zu viele junge Menschen fragten sich, warum sie sich kein Eigenheim leisten können, und der gesammelte Frust spiegele sich auch im Aufstieg von Populisten wider. 

Laut Hagelüken belaste die Globalisierung die deutsche Industrie, vielleicht nicht immer so radikal wie in Pirmasens: die einstige Hochburg der Schuhindustrie verlor von 30.000 Arbeitsplätzen 90 Prozent. Die Folge: Pirmasens habe bundesweit die höchsten öffentlichen Schulden und die meisten Schuldner. Jedes dritte Kind unter 15 lebe von Hartz IV. 

Alexander Hagelüken zeichnet somit das düstere Bild eines zwischen Arm und Reich gespaltenen Landes. Die Kluft sei größer als in allen anderen Euro-Staaten. Die Wut der Unzufriedenen könnte ein politisches Erdbeben auslösen, wie es sich beim Brexit und der US-Präsidentschaftswahl von Donald Trump schon andeutete. Hagelükens alarmierende Analyse zeigt, daß nur ein neuer Gesellschaftsvertrag eine Radikalisierung besonders der Mittelschicht aufhalten kann. 

Alexander Hagelüken: Das gespaltene Land. Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik ändern muß. Knaur Verlag, München 2017, broschiert, 240 Seiten, 12,99 Euro