© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Wenn Kulturkreise auseinanderdriften
Verfassungsreferendum: Die hier lebenden Türken haben mehrheitlich für Erdogan gestimmt / Deutsche Politiker fordern Konsequenzen
Christian Schreiber

Zahlen lügen nicht. Die in Deutschland lebenden Türken sind in der überwältigenden Mehrheit ein großer Rückhalt des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Fast zwei Drittel von ihnen haben beim Referendum für „Ja“ gestimmt. Mehr als 63 Prozent stimmten für die Einführung des Präsidialsystems. Nur 36,93 Prozent votierten nach dem vorläufigen Ergebnis der türkischen Wahlkommission dagegen. Die meisten Anhänger hat Erdogan dabei  im Ruhrgebiet. In der größten Stadt Essen stimmten mehr als 75 Prozent für seine Pläne. Ausgeglichen war das Abstimmungsverhältnis dagegen in der Bundeshauptstadt Berlin. Wahlberechtigt waren in Deutschland 1,43 Millionen Menschen türkischer Abstammung. Die Wahlbeteiligung lag hierzulande unter 50 Prozent.  

„Fehler im Umgang mit   Türkischstämmigen“

In anderen europäischen Ländern wie Österreich und Belgien fiel die Zustimmung für Erdogan noch deutlicher aus, allerdings leben dort weitaus weniger Türken als in Deutschland. Weniger Anhänger hat der türkische Präsident dagegen in England, den USA oder auch den arabischen Staaten, wo in der Regel mehr als 80 Prozent gegen die neue Verfassung stimmten.

Die Stimmauszählung war kaum abgeschlossen, da meldeten sich sogleich die Beschwichtiger zu Wort. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), warnte vor pauschaler Kritik. Viele Deutsch-Türken seien gar nicht zur Wahl gegangen, sagte sie der Saarbrücker Zeitung. Daher stehe nur eine Minderheit der türkischstämmigen Menschen in Deutschland hinter Erdogans Reform. Das Auftreten von Nationalisten unter Migranten sei darüber hinaus „keine Besonderheit der Deutsch-Türken, sowenig es uns gefallen kann“. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu gab sich gegenüber dem Berliner Tagesspiegel wenig überrascht. Er verwies auf die Parlamentswahl vor zwei Jahren, bei der Erdogans Partei 59 Prozent der Stimmen bekam. 

Weitere Faktoren seien der „polarisierende Wahlkampf“ des Präsidenten in Europa und die „unsägliche Verbotsdiskussion für AKP-Minister“ gewesen. Mutlu räumte aber auch ein, daß „gewisse Integrationsstrategien gescheitert“ seien. Interessant sind die Reaktionen innerhalb der Unions-Parteien. Während die CSU und konservative Teile der CDU Konsequenzen gegenüber der Türkei forderten und Änderungen beim Staatsangehörigkeitsrecht ins Spiel brachten, warnte Partei-Linksaußen Ruprecht Polenz vor einer „antitürkischen Kampagne“. Ein Blick auf die Zahlen zeige, daß diese Sichtweise nicht gerechtfertigt ist, kommentierte der CDU-Politiker die Stellungnahmen, die von einer mangelhaften Integration sprachen. 

Demnach hätten lediglich 400.000 Türken für Erdogan gestimmt: „Deshalb von gescheiterter Integration der Türken zu sprechen, wird der Realität nicht gerecht“, schrieb Polenz bei Facebook. Widerspruch kam von Bundesinnenminister Thomas de Maizière: „Ich erwarte, daß sich gerade die Türken und die Deutsch-Türken in Deutschland an einer Debatte zu einer konstruktiven gemeinsamen Zukunft beteiligen“, sagte er der Rheinischen Post. Ein „weiteres Auseinanderdriften unserer Kulturkreise“ könne und dürfe es jedenfalls nicht geben. Der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer (CSU), ging im Gespräch mit der Tageszeitung Die Welt noch einen Schritt weiter: „Ich halte es für wichtig, daß wir in der nächsten Legislaturperiode die Erleichterungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft wieder rückgängig machen.“ Der CSU-Politiker forderte, daß nach dem sogenannten Generationenschnittmodell zumindest den Kindern eines Doppelstaatlers die Staatsbürgerschaft auch wieder entzogen werden kann, „wenn diese nicht in Deutschland leben und offenkundig auch keinen Bezug mehr zu Deutschland haben“. Dieser Vorschlag solle in das gemeinsame Wahlprogramm von CDU und CSU aufgenommen werden. 

Der Koalitionspartner SPD lehnt eine Änderung der bestehenden Regelungen allerdings ab. An der Nato-Mitgliedschaft der Türkei wollen unterdessen weder  SPD noch die Union rütteln. „Die Entwicklung in der Türkei macht es uns schwer, aber keiner sollte glauben, daß eine Türkei außerhalb der Nato einfacher ist im Umgang als eine Türkei in der Nato“, sagte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen  der Bild-Zeitung. Die Türkei werde aufgrund ihrer geographischen Lage immer Europas Nachbar bleiben.

Unterschiedliche Meinungen gab es auch bei den Grünen. Der türkischstämmige Parteivorsitzende Cem Özdemir hatte rief die in Deutschland lebenden Türken auf, sich zu ihrer neuen Heimat zu bekennen. „Das Wahlergebnis zeigt auch, daß wir in Sachen Integration noch einen langen Weg vor uns haben: Es gibt offensichtlich unter den Deutsch-Türken diejenigen, die glauben, es reicht aus, wenn man nur mit den Zehenspitzen auf dem Grundgesetz steht.“

Eine bemerkenswerte Erklärung für das Abstimmungsverhalten lieferte Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth. Die Grünen-Politikerin  machte rassistische Ressentiments der Deutschen für das Wahlverhalten der Türken verantwortlich. „Tatsächlich sind ja im Umgang mit unseren türkischstämmigen Mitbürgern in den vergangenen Jahrzehnten Fehler gemacht worden, die Verletzungen hinterlassen haben. Ein türkischer Nachname ist auch heute noch eine Hürde beim Zugang zu Wohnung oder Ausbildungsplatz.“