© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/17 / 21. April 2017

Atlantismythen in der Deutschen Bucht
Günter Bischoff geht den Spuren des antiken Mythenreiches mit dem Zentrum Althelgoland in der Nordsee nach
Wolfgang Kaufmann

Wo wurde das sagenhafte, von Platon um 360 v. Chr. in den Dialogen „Timaios“ und „Kritias“ beschriebene Atlantis nicht schon überall gesucht: auf den Mittelmeerinseln Kreta, Santorin, Sardinien, Malta und Sizilien, an den Dardanellen und den Gestaden des Schwarzen beziehungsweise Asowschen Meeres, in Spanien und Portugal, auf dem Balkan, im tunesischen Salzsee Schott el Dscherid, in Nigeria und Mexiko, auf den Britischen Inseln und in der Bretagne, bei den Azoren und den Bahamas, im Malaiischen Archipel sowie auf dem indischen Subkontinent und neuerdings sogar in der Antarktis.

Darüber hinaus versuchte der schwedische Geologe Arvid Gustav Högbom 1920, den angeblich um 9400 v. Chr. versunkenen Kontinent in der Nordsee zu verorten. Größere Bekanntheit erlangte diese Idee jedoch erst durch den Bordelumer Pfarrer Jürgen Spanuth, der 1953 mit seinem Buch „Das enträtselte Atlantis“ Furore machte und zeitweise als „Schliemann des Nordens“ galt. Allerdings passen die archäologischen Befunde nicht zu der Annahme, daß Atlantis im Verlaufe der Bronzezeit untergegangen sei und dessen Bewohner hernach den Seevölkersturm im Mittelmeerraum angezettelt hätten. So gibt es keinerlei frühgeschichtliche Artefakte aus dem tatsächlich auf Helgoland vorkommenden Kupfererz, und die Ableitung der phönizischen Schrift aus den germanischen Runen ist total an den Haaren herbeigezogen – ganz abgesehen davon, daß zwischen Platons und Spanuths Datierungen eine gewaltige Lücke von über 8.000 Jahren klafft.

Trotzdem aber fand der 1998 verstorbene Geistliche immer wieder höchst enthusiastische Epigonen – die indes allesamt nicht zum Kreise der Fachhistoriker oder Archäologen gehörten. Das gilt auch für den Dresdner Mathematiker Günter Bischoff, der bis 2015 im Sächsischen Landesamt für Steuern und Finanzen arbeitete und im Jahr darauf das Buch „Atlantis und sein Zentrum Althelgoland“ herausbrachte, das nun angeblich den neuesten Forschungsstand verkörpern soll. 

Dabei greift Bischoff aber nur die altbekannten Theorien Spanuths auf, um sie dann noch mit eigenen Gedanken folgender Art anzureichern: Das ursprünglich sehr viel größere Helgoland und die atlantische Hauptinsel „Basileia“ seien zwar identisch gewesen, aber die Wurzeln der von Platon beschriebenen Super-Kultur müsse man wohl doch auf dem weiter nördlich gelegenen „Doggerland“ suchen, wo das atlantische Zeitalter schon um etwa 5200 v. Chr. seinen Anfang genommen habe.

Ansonsten verlegt Bischoff den Untergang von „Helgoland-Atlantis“ genau wie Spanuth ins Jahr 1220 v. Chr., in dem tatsächlich eine große Sturmflut Teile der Westküste des heutigen Schleswig-Holstein und Dänemarks ins Meer riß. Dabei geht der Dresdner aber nicht von gewöhnlichen Überschwemmungen infolge windbedingter erhöhter Tidenströme aus. Vielmehr resultierte die Naturkatastrophe seiner Meinung nach aus dem „Einschlag eines einhundert bis zweihundert Meter großen Asteroiden nahe der Felseninsel Helgoland“. Außerdem verweist er noch auf die Erkenntnisse des pensionierten Mindener Gymnasiallehrers Hans-Wilhelm Rathjen. Der behauptete 2004, nun endlich die von Platon beschriebene „Große Ebene“ von 2.000 mal 3.000 Stadien (etwa 200.000 Quadratkilometer) gefunden zu haben – und zwar im Bereich zwischen Kap Skagen und der Odermündung beziehungsweise Helgoland und dem Öresund!

Helgolands Felsklippen als Säulen des Herakles

Damit das Ganze einigermaßen zu Platons Schilderung paßt, mußte Bischoff diverse argumentative Kraftanstrengungen unternehmen, wie die, das legendäre Atlantis-Metall Oreichalkos (eine Legierung aus Kupfer, Zink, Nickel, Blei und Eisen) mit Bernstein gleichzusetzen. Ebenso gewagt ist die Behauptung, bei den Säulen des Herakles, hinter denen Atlantis laut Platon lag, handele es sich in Wahrheit um die Felsklippen Helgolands. Und dann wäre da noch das Problem der großen Elefantenherden, die auf dem versunkenen Kontinent heimisch gewesen sein sollen, was nun so gar nicht zu der Nordseeinsel paßt: Hier postuliert der Autor einen Übersetzungsfehler – Platon habe sicher Walrösser oder Auerochsen gemeint … 

Mit solchen und ähnlichen Tricks vermag Bischoff allerdings nicht wegzudiskutieren, daß es bisher keine wirklichen Beweise für seine Hauptthesen gibt: Zwar weist der Meeresgrund südlich von Helgoland tatsächlich ein 4 mal 15 Kilometer großes Loch auf, für einen Meteoritenkrater fehlen jedoch die sonstigen typischen Begleiterscheinungen großer Impakte kosmischer Körper wie ausgeworfene, durch die enorme Einschlagenergie verglaste und über große Flächen verteilte Gesteinstrümmer. Ebenso erbrachte bisher nicht eine der zahlreichen Tauchexpeditionen im Bereich der Insel Helgoland sowie der nordöstlich angrenzenden Untiefe Steingrund handfeste archäologische Belege. Entweder verschwanden die angeblich geborgenen Artefakte später auf mysteriöse Weise oder es handelte sich bei diesen um Hinterlassenschaften aus dem Mittelalter. Desgleichen wurden die „umfangreichen Wallanlagen aus der Bronzezeit“ mittlerweile als unterseeische Endmoräne „enttarnt“.

Insofern ist das Rätsel um Atlantis keineswegs schon „weitgehend“ gelöst, wie Bischoff zum Schluß seiner Ausführungen behauptet. Vielmehr besteht nach wie vor die Möglichkeit, daß Atlantis an ganz anderer Stelle aus dem Meer ragte oder vielleicht doch nur der Phantasie Platons entsprungen war.

Günter Bischoff: Atlantis und sein Zentrum Althelgoland. Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2016, gebunden, 250 Seiten, 19,95 Euro