© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Die Masche mit dem Mitleid
Ausländische Bettelbanden, Drogenabhängige, Weltenbummler: Die Spendenbereitschaft ist groß, die Naivität der Spender auch
Hinrich Rohbohm

Die alte Frau hat sich gut postiert. Direkt vor dem Eingang eines Einkaufszentrums in der Hamburger Mönckebergstraße. Sie trägt einen in die Jahre gekommenen grauen Mantel und ein braunes Kopftuch. Ihr Rücken ist krumm. Sie hinkt auf einem Bein. Wenn die zahlreichen Passanten an ihr vorübergehen, sagt sie nichts. Auf ihren Gehstock gestützt, hält sie lediglich ihre Hand für ein Almosen auf. Viele beachten die alte Frau nicht, gehen schnellen Schrittes ihres Weges. Wer langsamer unterwegs ist, sie aber trotzdem nicht wahrnimmt, wird von ihr dezent mit der Hand angestupst. So auch die junge Mutter mit Kind, die sich überrascht umdreht. Als sie die ausgestreckte Hand sieht, schüttelt sie den Kopf und läuft weiter.

Das Geld wird mehrmals täglich abgegeben

Fünf Minuten lang geht das so. Bis eine ältere Dame ihr Portemonnaie zückt und der Kopftuch-Frau einen Euro in die Hand legt. Kurze Zeit später liegt die nächste Münze in der Hand der Frau. Ein Rentner gibt ihr bald darauf sogar einen Fünf-Euro-Schein. „Sie hat mir einfach leid getan. Die leben doch von der Hand in den Mund, da muß man einfach helfen“, sagt er. Die alte Frau läßt das Geld in einem kleinen Beutel verschwinden.

Es ist Mittagszeit. Innerhalb von nur einer Stunde haben ihr 25 Personen etwas in die Hand gelegt. Zumeist sind es 50-Cent- oder 1-Euro-Münzen, manchmal weniger, manchmal auch mehr. Nicht immer ist das eindeutig zu erkennen. Knapp 20 Euro dürften zusammengekommen sein. Die alte Frau geht jetzt zu einem hochgewachsenen jungen Mann mit schwarzen Haaren und dunkelgrünem Anorak, der eher unauffällig in der Ecke des Eingangsbereichs vom Einkaufszentrum steht. Sie kramt den Geldbeutel hervor, übergibt ihn dem Mann. Die beiden wechseln kein Wort miteinander. Der ganze Vorgang dauert keine zwei Sekunden, ehe die alte Dame sich mit ihrem Krückstock wieder aufmacht, um erneut die Hand aufzuhalten.

Drei Stunden später steht die Frau noch immer da. Der Mann mit dem grünen Anorak und dem schwarzen Haar hingegen ist verschwunden. Wieder macht sich die Bettlerin mit ihrem Krückstock auf, um ihr Geld abzuliefern. Wieder steuert sie die Ecke des Eingangsbereichs an. Da steht jetzt ein anderer Mann. Ebenfalls schwarzhaarig, aber kleiner, wohlbeleibter und fülliger im Gesicht und mit einem Vollbart. Wieder erfolgt die Geldübergabe. Während die alte Frau weiter um Almosen wirbt, ist der Mann kurze Zeit später verschwunden. Eine weitere Stunde vergeht. Das gleiche Spiel beginnt von neuem. Und wieder ist es ein anderer Mann, der das Geld entgegennimmt.

Auch in den Abendstunden ist die Kopftuch-Frau mit der Krücke noch an ihrem Platz, die Hand eisern aufhaltend. Dasselbe Ritual spielt sich ab. Als das Einkaufszentrum schließt, geht sie. Ohne Hinken und nicht auf die Krücke gestützt, die sie jetzt einfach unter den Arm geklemmt hat. Sie geht zur Straße. Ein silberfarbener Minibus hält. Die Schiebetür geht auf, die Frau steigt ein. In dem Fahrzeug sitzen sechs weitere Frauen. Die meisten von ihnen haben jüngere Gesichter.

Am nächsten Morgen setzt das Spiel erneut ein. Es ist 9.30 Uhr. Das Einkaufszentrum öffnet. Wieder hält ein Minibus. Diesmal ist es ein weißer Wagen. Und diesmal ist es auch eine andere Frau, die aussteigt. Ebenfalls mit Kopftuch, aber deutlich jünger und ohne Krücke. Sie hat eine Wolldecke dabei, die sie neben dem Eingang ausbreitet und auf die sie sich setzt. Vor die Wolldecke stellt sie einen weißen Pappbecher. Dann kauert sie sich zusammen, den Blick zu Boden gerichtet. Es dauert nicht lang, bis es im Becher klimpert. Nach einer guten Stunde macht auch sie sich mit dem Pappbecher auf, um ihn einem Mann zu übergeben.

Zehn Stunden hat das Einkaufszentrum geöffnet. Legt man stündlich 20 Euro zugrunde, so würde der tägliche Ertrag dieser Form des Bettelns bei 200 Euro liegen. Steuerfrei und ohne Sozialabgaben. Ein lukratives Geschäft, das in Westeuropa zunehmend stärker und organisierter in Form der sogenannten Bettelmafia um sich greift. Zumeist handelt es sich dabei um Zigeunerbanden aus Osteuropa, die vor allem Kinder und Behinderte nach Westeuropa bringen, um sie dort auf belebten Straßen und Plätzen nach Almosen betteln zu lassen. Andere wiederum täuschen Behinderungen vor.

Der Grund dafür liegt auf der Hand. Vermögen und Spendenbereitschaft sind in Westeuropa hoch. Ebenso wie das Ausmaß an Naivität. Angesprochen auf den Betteltrick vor dem Hamburger Einkaufszentrum reagieren die meisten der Spender mit Unverständnis oder Verärgerung. „Das ist zynisch, was Sie da sagen“, entfährt es einer Frau, die, von der JF auf ihr Almosen angesprochen, mit der Vorgehensweise der Bettlerin und ihrer Hintermänner konfrontiert wird. „Seien Sie froh, daß Sie nicht in einer solchen Situation sind“, belehrt uns ein Mann um die Sechzig. Den Bettlern selbst bleibt dabei jedoch wenig bis gar nichts. Nicht selten werden sie lediglich mit ein wenig Essen und Trinken abgespeist.

Andere wiederum hat die Sucht nach Drogen oder Alkohol zum Betteln gebracht. Einer von ihnen ist Michael. Doch so nennt ihn in Berlin-Wilmersdorf niemand. „Alle sagen Micky zu mir.“ Micky gehört zu jenen, die täglich in Berlins U- und S-Bahnen schwarzfahren, um dort für die Länge von ein bis zwei Stationen eine Geschichte zu erzählen. „Höflichkeit ist ganz wichtig“, erklärt er der JF. „Je höflicher du bist, desto mehr sind die Leute bereit zu geben.“ Der 25jährige finanziert auf diese Weise seine Drogenabhängigkeit. „Aber nur Marihuana, völlig harmlos“, versichert er.

Konkurrenz und Prügel durch Einwanderer

Seine Geschichte in der Bahn geht so: Er sei derzeit obdachlos, und es sei zur Zeit unglaublich schwer, eine Wohnung in Berlin zu finden. Er möchte nur über die Runden kommen und brauche nur ein wenig Geld für Essen und Trinken. Und dafür, um sich eine Bleibe zu suchen. Gerne nehme er auch Naturalien. „Das mit dem Essen und Trinken sagt man eigentlich nur, weil es glaubwürdiger wirkt. Die meisten von uns brauchen aber einfach nur das Geld.“ Wichtig sei: Auch bei Ablehnung immer höflich bleiben. „Das bekommen die anderen Fahrgäste ja auch mit. Die finden das gut und geben dann schon wieder eher was.“ Pro Waggon gebe „mindestens einer“ Geld. „Pro Haltestation bekomme ich im Schnitt zwei Euro“, schildert er. In einer Stunde habe er in der Regel rund 30 Euro zusammen. „Trotzdem bin ich meistens schnell wieder pleite“, schildert er mit einem Seufzer. Marihuana am Tag und Partys in der Nacht lassen ihm das Geld schnell durch die Finger gleiten, erklärt er.

Regelrechte Überlebenskünstler sind dagegen Heather und Álvaro. Die 22jährige Engländerin und der zwei Jahre ältere Spanier sind seit zwei Jahren ein Paar. Und dabei regelrechte Weltenbummler. „Wir reisen quer durch die Welt.“ Statt zu arbeiten, würden sie sich mit Spendeneinnahmen über Wasser halten. Seit „ein paar Wochen“ seien sie nun in Berlin „unterwegs“. „Wir betteln aber nicht einfach, sondern machen auch Musik“, sagt Heather. Álvaro spielt Gitarre, Heather singt. „Ich weiß nicht warum, aber mit den Songs ‘Imagine’ und ‘Let it be’ haben wir immer die höchsten Spenden“, erzählt Heather und lacht. „Erst vor einigen Tagen haben wir damit in der Berliner S-Bahn bei der Fahrt von lediglich zwei Stationen 50 Euro gemacht“, ergänzt Álvaro stolz. Auf diese Weise würden sie sich quer durch Europa durchschlagen. „So sehen wir was von der Welt und können an den Orten chillen, die uns gefallen“, meint Heather. Daß sie dabei im Gegensatz zu gewöhnlichen Arbeitnehmern am Fiskus vorbei schwarz ihr Geld verdienen, stört sie nicht. „Die Politiker machen doch sowieso, was sie wollen, warum soll ich denen noch Geld geben“, sagt Álvaro etwas trotzig.

Geld, das „Schorsch“ gut gebrauchen könnte. Der 52jährige lebt als Obdachloser in der Frankfurter Innenstadt. Er ist das, was man gemeinhin als „Penner“ bezeichnen würde. Und „Schorschi“, wie ihn seine Kumpel in der Obdachlosen-„Szene“ nennen, hat mit dem Begriff auch kein Problem. „Ich bin ja auch ein Penner“, sagt er und setzt dabei ein Lächeln auf, das zahlreiche Zahnlücken zum Vorschein bringt. „Meine Klamotten stinken, ich stinke, und meine Gesellschaft stinkt den meisten auch“, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Doch etwas stinkt auch ihm gewaltig. „Die ganzen Schmarotzer hier werden immer mehr.“ Er meint damit nicht jene, die auf das Betteln angewiesen sind. Das seien vielmehr „in Not Geratene“. „Die das organisiert machen, mein’ ich“, brüllt er plötzlich laut heraus, wobei ein Schwall von Alkoholgeruch seinem Mund entweicht. All jene, die das Betteln als lukrative Einnahmequelle für sich entdeckt und zum Geschäftsmodell gemacht hätten, verachte er. „Daß uns die Zigeuner das Revier streitig machen ist schon hart genug. Aber warum müssen intelligente Leute, die auch so Arbeit finden, jetzt auch noch die Hand aufhalten, weil sie vielleicht ein lockeres Leben führen wollen?“ Für ihn sei das Leben alles andere als locker. Und Geschichten wie die von Heather und Álvaro machten ihn „rasend“ vor Wut. „Die müssen das nicht tun. Aber ich habe keine Wahl mehr.“

Die Zuwanderungskrise habe die Szene zudem besonders hart zu spüren bekommen. „Für uns gibt’s immer weniger, und es wird gefährlicher.“ Er erzählt von anderen Obdachlosen, die „von jungen Männern aus dem Orient grundlos verprügelt“ wurden. Der Mann greift frustriert nach seiner Sektflasche und blickt ein wenig wehmütig auf den Main. „Ich hätte mir gewünscht, unser Staat würde für uns auch so viel tun wie für die“, sagt er frustriert und setzt zum Trinken an.





Betteln: Nicht verboten, aber lästig

Betteln ist in Westdeutschland seit 1974 mit Aufhebung des Paragraphen 361 StGB nicht mehr strafbar. In der DDR war es zusammen mit „Landstreicherei“ durch den „Asozialenparagraphen“ 249 StGB verboten und wurde verfolgt. Aggressives Anbetteln (durch Bedrängen, In-den-Weg-Stellen, Festhalten, Verfolgen) kann als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Die Kommunen haben dazu örtlich verschiedene „Bettelsatzungen“ erlassen. Seit das organisierte Betteln mit dem Anschwellen der Masseneinwanderung nach Deutschland in Umfang und Ausmaß stark zugenommen hat, haben viele Großstädte mehrerer Bundesländer die Verordnungen verschärft. Essen beispielsweise verbietet seit März Betteln mit Kindern und Tieren und durch „Vortäuschen künstlerischer Leistungen“, Dresden geht gegen Bettler vor, die körperliche Mängel (Buckligkeit, Klumpfuß, amputierte Beine usw.) vortäuschen. Beide Städte sehen für Verstöße Bußgelder bis zu 1.000 Euro vor. Täuschungshandlungen konnten auch bisher schon als Betrug verfolgt werden. Wenn aber nichts angezeigt wird, kann die Polizei nicht einschreiten. (ru)