© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Alles nur eine ausländische Konspiration
Venezuela: Tote und Verletzte bei Massenkundgebungen / Sozialistische Regierung zeigt sich ungerührt
Marc Zoellner

Es sind sind harte Zeiten für die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus von Boa Vista, der Hauptstadt von Brasiliens nördlichstem und gleichzeitig ärmsten Bundesstaat: Beinahe täglich erreichen Dutzende neue Patienten die Empfangshalle der einzigen staatlichen Allgemeinklinik im Dschungel des Amazonasbeckens. 

Schon längst sind die Betten der Heilanstalt überfüllt; unzählige Menschen müssen in Schlafsäcken und selbst auf dem blanken Fußboden auf ihre dringende, mehr als überfällige medizinische Behandlung warten. „Sie kommen hier unterernährt an, mit verschiedensten Krankheiten, manche von ihnen aus Mangel an Nahrung ausgebrochen, mit Atemwegs- und Hauterkrankungen, mit ansteckenden Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Syphilis“, berichtet eine der Helferinnen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. 

Eine friedliche Lösung liegt in weiter Ferne

Boa Vista ist zum letzten Hoffnungsschimmer für unzählige Menschen geworden: Im Glauben an Arbeit, an ein wenig Geld, an Nahrung, an politisches Asyl und besonders auch an medizinische Versorgung strömen sie zu Fuß, auf Mopeds und in Bussen über die Grenze Venezuelas nach Brasilien, um Unterschlupf und Sicherheit im Nachbarstaat zu finden. Denn ihr eigenes Land, der von politischen Unruhen geschüttelte Erdölriese Venezuela, zeigt sich weder willens noch in der Lage, sich um die Belange seiner Bürger zu kümmern.

Doch Venezuelas sozialistischer Präsident Nicolás Maduro schert sich nicht: weder um die zahllosen Flüchtlinge an den Grenzen zu Brasilien und Kolumbien, noch um die Anliegen der Opposition, welche seit Wochen gegen das autokratisch regierende Staatsoberhaupt protestieren. Ganz im Gegenteil setzt Maduro einzig auf Gewalt als Mittel zum Zweck der Zerschlagung dieser Proteste: Als das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD), ein  Bündnis aus sozialdemokratischen, liberalen und christlich-demokratischen Parteien, vergangene Woche Mittwoch zur „Mutter aller Demonstrationen“  nach Caracas gerufen hatte und mehrere Millionen Menschen diesem Aufruf gefolgt waren, feuerten Polizei und Militär wahllos Gummigeschosse und Tränengasgranaten in die Menge und töteten dabei mindestens zwölf Demonstranten. Die Zahl der Festnahmen ging in die Tausende.

„Alles Terroristen!“, schimpfte Maduro vor versammelten Anhängern und kündigte eine komplette Zerschlagung der Protestbewegung an – auch mit gewaltsamen Mitteln. Allein die zivilen Milizen, die sogenannten „Colectivos“, die sich oftmals aus Mitgliedern marxistisch orientierter Drogengangs rekrutieren und zu den loyalsten Anhängern Maduros sowie seines verstorbenen Vorgängers Hugo Chavez zählen, sollen, so der venezuelanische Präsident, um eine halbe Million Mann aufgestockt werden – und jeder von ihnen, versprach Maduro, erhielte dann sei eigenes Gewehr.

Die Opposition scheint zu resignieren: Eine friedliche Lösung ist längst in ungreifbare Ferne gerückt. Immer öfter rüsten jugendliche Protestler sich mit Pflastersteinen und Brandbomben aus, liefern sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. „Wir haben nichts zu verlieren“, berichtet eine Demonstrantin der Nachrichtenagentur AFP.

Wie sie träumen viele Venezuelaner derzeit von demokratischen Neuwahlen. Doch einzig um den Sturz des Präsidenten geht es der Opposition schon lange nicht mehr. Vielmehr sind die Proteste besonders der Unterschicht des Landes aus der Not geboren: Denn die seit Jahren sinkenden Erdölpreise haben keine Nation stärker getroffen als Venezuela, dessen Ölexporte weit über neunzig Prozent des Staatshaushalts ausmachen. Da Venezuela seine Auslandsschulden nicht mehr bedienen kann, bleibt das Gros der sonstigen Nahrungsmittel- und Medikamentenimporte aus.

Im Parlament findet Maduro mit seinem Kurs des „Festhaltens am Sozialismus“ seit den Wahlen vom Dezember 2015 keine Mehrheit mehr. Damals eroberte der MUD im Erdrutschsieg 107 der 167 Sitze der gesetzgebenden Kammer. Für den Obersten Gerichtshof Venezuelas der augenscheinlichste Anlaß, das Parlament Ende März dieses Jahres zu entmachten sowie den Oppositionsführer Henrique Capriles mit 15 Jahren Politikverbot zu sanktionieren – und für MUD das Fanal zu den bis heute anhaltenden, kontinuierlich gewalttätiger werdenden Protesten gegen einen Präsidenten, der in den Demonstrationen eine „Konspiration ausländischer Kräfte“ zu seinem Sturz sieht.