© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Pankraz,
J.-F. Lyotard und das Denken ohne Körper

Hunde, wollt ihr ewig leben?“ Diese Frage soll am 3. November 1760 in der Schlacht von Torgau, der letzten großen Schlacht des Siebenjährigen Krieges zwischen Preußen und Österreich, der Preußenkönig und Heerführer Friedrich II. (Friedrich der Große) seinen Truppen zugerufen haben, um sie zu letztem Einsatz zu ermuntern. Die Preußen gewannen die Schlacht, über 30.000 gefallene preußische und österreichische Soldaten bedeckten am Ende die Walstatt.

„Bürger, wollt ihr ewig leben?“ Diese Frage stellte kürzlich (laut New Yorker) der israelische, in New York City lehrende Genetiker Nir Barzilai seinen Zuhörern nach einem Vortrag,  in dem er über die neuesten Projekte des Silicon Valley zur Schaffung einer „künstlichen Unsterblichkeit“ referiert hatte. Die Sache läuft darauf hinaus, daß die gesamte Datenmenge eines lebendigen Gehirns in einen Roboter übertragen wird, wo es dann angeblich auf ewig weiterticken kann, unangreifbar von Krankheiten oder Prozessen natürlicher Alterung, ohne Todesfurcht und gleichsam in göttlicher Zeitlosigkeit. 

Die Antwort der Barzilai-Zuhörer war eindeutig: nein, nein und noch einmal nein. „Ewig leben“ um den Preis, daß es keine natürliche Reproduktion mehr gibt, keine fühlbare, verletzliche Körperlichkeit, keine Liebe, keine Lebensalter, mehr und keine Begrenzung durch den Tod  – solchen Zumutungen wollte sich niemand im Saal aussetzten. ja mehr noch: es gab echte Empörung gegen die Propagandisten solcher Zustände. Jemand sprach klipp und klar von einem „Verbrechen gegen die Menschheit“, das hier betrieben werde.


Pankraz möchte zunächst abwiegeln. Man sollte sich klarmachen, daß in Silicon Valley nicht wenige halbverrückte Großmäuler unterwegs sind, die sich üblicherweise mit dem tristen Geschäft befassen, Algorithmen zur Belebung der Finanzbranche freizulegen, und die ihre abstrusen Theorien über „ technische Unsterblichkeit“ als Reklame für sich selbst betreiben. Wer den Kunden Unsterblichkeit anbietet, so das Kalkül, dem wird wohl immerhin zugetraut werden, optimale Zahnbürsten oder optimale Beförderungsdienste im Portfolio zu haben.

Zieht man all diese Reklametricks und Aufschneidereien ab, so bleibt freilich trotzdem eine ernsthafte Fragestellung übrig, die das Nachdenken lohnt und die schon der unvergessene Jean-François Lyotard (1924–1998) vor vierzig Jahren in einem seinerzeit viel diskutierten Essay aufgeworfen hat. „Ob man ohne Körper denken kann“ heißt die Arbeit; Boris Groys hat vorige Woche in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung über „Selbstoptimierung“ dankenswerterweise an sie erinnert.

„Die wahre Herausforderung“, schrieb Lyotard damals in äußerst zukunftshaltigem Stil (das Internet war noch kein Gemeingut), „besteht in der Schaffung einer neuen Hardware, die den menschlichen Körper ersetzen könnte, darin also, ein neues Medium zu finden, in das die menschliche Software, das heißt das Denken, eingeschrieben werden könnte“. Seiner Meinung nach war die Möglichkeit einer solchen Einschreibung durchaus gegeben, „weil Technik keine Erfindung der Menschheit ist“. Die Entwicklung der Technologie sei vielmehr ein „kosmischer Prozeß, in den die Menschen bloß periodisch involviert sind“.

Der junge Pankraz hat damals Lyotard extra in seinem Pariser Collège international de philosophie, das er einst zusammen mit Jacques Derrida gegründet hatte, besucht, um ihn zu fragen, ob er wirklich glaube, daß die Technik keine Erfindung des Menschen sei, sondern ein „kosmischer Prozeß“. Für ihn war Lyotard damals Held und Vorbild, das sich den wüsten 68ern von Anfang an tapfer widersetzt hatte und dessen „Poststrukturalismus“ allen „bloßen Theoriegebäuden“ und vor allem dem aggressiven marxistischen Theoriegestümper mit größerer Skepsis entgegentrat. Wieso denn jetzt plötzlich diese Wende?


Nein, entgegnete Lyotard, von einer Wende könne bei ihm keine Rede sein. Speziell menschlich seien eben nur die „Narrative“, die großen myhischen Erzählungen, die die Menschen über die Weltzustände von sich gäben, auch der Marxismus sei solch ein bloßes Narrativ. Daneben gebe es aber ein speziell szientifisch-technisches Wissen, und das sei eindeutig übermenschlich. Es walte sowohl in den kosmischen Bewegungen der Gestirne als auch in den physikalischen Gesetzen der lebendigen Natur. Und wir technisch begabten, streng wissenschaftlich orientierten Menschen hätten Teil an diesem kosmischen Glück. 

Andererseits beharrte Lyotard darauf, daß das Projekt der Moderne voll gescheitert sei. Die „großen Erzählungen“ müßten aufgegeben werden. An ihre Stelle treten müsse eine „Vielfalt von Diskursen“, wobei er jedoch darauf beharrte, daß jeder dieser Diskurse strikt technischer Rationalität zu folgen habe. Nur so sei ein gutes Leben möglich. Mit ziemlichem Kummer fuhr Pankraz nach jener Begegnung nach Hause zurück. Wo blieb hier die Rolle des Gefühls, des gelebten Augenblicks, dessen Fährnissen meistens doch nur gänzlich spontan, einzig „aus dem Bauch heraus“ begegnet werden kann?

Denken ohne Körper, ohne Mitwirkung des körperlich angeleiteten Gefühls in all seinen schier unendlichen Variationen und Einflußmöglichkeiten? Für jeden genauen Nachdenker muß eine solche Perspektive an sich eine Monstrosität sein. Und das betrifft keineswegs nur die großen Erzählungen, sondern auch und vor allem das  – so Lyotard  – „rein wissenschaftlich-technische Denken“, all das Berechnen und Kalkulieren, mit dem wir uns das tägliche Leben bequemer und „optimierter“ zu gestalten trachten. 

Gerade die neuesten Entwicklungen senden in diese Richtung immer häufiger grelle Alarmsignale aus: Bevölkerungsexplosion, Naturzerstörung, Müllberge, Verblödung des öffentlichen, nicht zuletzt des politischen Lebens. Es gibt aber auch Hoffnung, siehe die Diskussion nach dem Vortrag von Nir Barzilai im Silicon Valley. Das Denken gehört nun einmal zum Menschen, und es ist eine leibgeistige Einheit.