© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Zeitschriftenkritik: Der Spiegel – Edition Geschichte
Aus Trümmern erwachsen
Werner Olles

Der Studentenführer Rudi Dutschke bezeichnete seinerzeit das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre in typischem Soziologen-Deutsch als „Rekonstruktionsperiode“. Es war aber ein Wunder, wenngleich kein spirituelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches, an dem viele Akteure beteiligt waren: fleißige deutsche Arbeitnehmer, Unternehmer und Politiker, denen die Verantwortung für Volk und Staat noch bewußt war. Selbst Der Spiegel kommt in seiner Reihe „Edition Geschichte“ (1/2017) nicht umhin, über die Adenauer-Jahre von einem „deutschen Wunder“ zu sprechen, das aus den Ruinen der zerstörten Städte erwuchs. Natürlich darf der Hinweis auf das „muffige Gesicht der fünfziger Jahre“ nicht fehlen, Kanzler Adenauer habe „autoritär, fast autokratisch“ gehandelt und „ein großes Herz für ehemalige Nazis“ gehabt, doch sei dies bei den Westdeutschen, die „mehrheitlich Wert auf Ordnung, Sauberkeit und eine starke patriarchalische Hand legten“, gut angekommen. Wie bei allen Klischees und Vorurteilen ist daran ebensoviel falsch wie richtig. Davon abgesehen enthält das 154 Seiten umfangreiche Heft eine Fülle an Lesestoff mit Beiträgen von bekannten Autoren wie Hellmuth Karasek und Jürgen Leinemann. 

Beginnend mit dem Fotoessay „Aufbruch aus Ruinen“ und Bildern vom zerstörten Potsdamer Platz in Berlin, der Berlin-Blockade mit den amerikanischen „Rosinenbombern“ und ersten Badegästen in Travemünde 1949 an der Grenze zum sowjetisch besetzten Mitteldeutschland, über die „blühenden Landschaften“, die zwischen 1950 und 1959 das Bruttosozialprodukt der Westdeutschen haben verdoppeln lassen, bis zu Adenauers Tod am 25. April 1967 vollzieht sich die Geschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland aus den Trümmern der Diktatur zu einem der liberalsten Staaten Europas.

Es ist eine stabile Demokratie, fest im Westen verankert mit einer funktionstüchtigen Regierung (CDU/CSU/FDP), einer bisweilen miesepetrigen Opposition (SPD), einer loyalen Beamtenschaft, hohen Wahlbeteiligungen und klaren Mehrheitsverhältnissen. Fast alle wichtigen Blätter beginnen als Lizenzzeitungen der Alliierten, mißtrauisch beobachtet von geschulten Presseoffizieren. Die „Entnazifizierung“ ist vor allem den Amerikanern ein Anliegen. Alliierte und deutsche Spruchkammern fällen über 3,4 Millionen Urteile, für geringfügige Vergehen gibt es drakonische Strafen, doch mit dem Ausbruch des Kalten Krieges erlischt der Verfolgungselan der Sieger. Carlo Schmid (SPD) fordert gegen Feinde der Demokratie „Mut zur Intoleranz“, während eine tiefe Skepsis gegen den Souverän das Grundgesetz durchzieht, Volksentscheide sind nicht vorgesehen. Über acht Millionen mittellose Vertriebene werden integriert. Nirgendwo gelingt die Eingliederung der Opfer des grausamen Krieges so gut wie in Deutschland. Dies alles bei einer Sechstagewoche, zwei Wochen Jahresurlaub und oft stundenlangen Anfahrten zur Arbeitsstätte. Fürwahr, ein deutsches Wunder.

Kontakt: Spiegel Verlag, Ericusspitze 1, 20547 Hamburg. Das Heft kostet 9,90 Euro. 

 www.spiegel-geschichte.de