© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Wie aus dem gegängelten Staatsbürger ein umworbener Kunde werden kann
Lob der kleinen Einheiten
Philipp Bagus

Kleine politische Einheiten bedeuten intensiveren Wettbewerb. Denn dann gibt es mehr Einheiten und nähere Grenzen. Sie machen die Exit-Option billiger und zwingen die Mächtigen sowohl zu einer ungewollten Zurückhaltung beim Griff in des Bürgers Tasche als auch zu mehr Anstrengung, qualitativ höherwertige Rahmenbedingungen zu bieten, wie beispielsweise ein gutes Bildungssystem oder eine gute Infrastruktur.

Einmal mehr kann der Vergleich mit der kleinen Einheit „Familie“ zum besseren Verständnis beitragen. Könnte ein Familienvater seine erwachsenen Kinder zwingen, an ihn 50 Prozent ihres Einkommens abzuführen? Könnte er ihnen vorschreiben, daß sie zu Hause keinen Alkohol trinken dürfen, für überteuerten Windstrom zahlen müssen, in ihrem Zimmer nur lächerliche Energiesparbirnen nutzen dürfen oder einen Veggie-Day einführen? Die meisten Kinder würden wohl unverzüglich ausziehen. Auch ein Bürgermeister wird kaum den Alkoholkonsum verbieten können oder mit einer Gemeindesteuer auf Fleischkonsum in Höhe von 100 Prozent durchkommen. Auch würde der Bürgermeister bei der massiven Ansiedlung von Menschen anderer Kulturen auf Kosten der Bürger wohl Schwierigkeiten bekommen. Die Menschen würden mit den Füßen abstimmen und scharenweise das Dorf oder den Stadtteil verlassen. Noch auf regionaler Ebene ist das Abstimmen mit den Füßen, der Wohnortwechsel realistisch, wenn es zu großen Übergriffen auf das Eigentum der Bürger kommt. Wenn man Riesenstaaten wie die ehemalige Sowjetunion betrachtet, wird deutlich, was ein Staat seinen Bürgern antun kann, wenn die Option des „Abstimmens mit den Füßen“ praktisch ausgeschlossen ist.

Ähnlich verhält es sich mit Zöllen. Ein Familienvater würde wohl für verrückt erklärt werden, wenn er sagte: „Wir wollen autark sein. Wir pflanzen unser eigenes Essen an, schneiden uns die Haare selber, bauen unser eigenes Fortbewegungsmittel und behandeln uns bei Krankheit selbst. Damit das einigermaßen eingehalten wird, erhebe ich Zölle auf alle Waren und Dienstleistungen, die ihr bei Nichtfamilienmitgliedern kauft.“ Eine Familie kann es sich nicht erlauben, alles selbst zu produzieren, will sie nicht am Rande des Hungertodes dahinvegetieren. Sie braucht den freien Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital mit dem Rest der Welt. Zölle zu erheben und autark leben zu wollen grenzt hier an Selbstmord. Die Folgen der schlechten Politik werden hier unmittelbar fühlbar.

Je näher die Grenze, um so leichter können die Menschen Bedingungen entkommen, die ihnen nicht zusagen, wie übermäßige Steuern oder Zölle, erdrückende Regulierungen, Repressalien, Masseneinwanderung oder inflationäre Währungen.

Bei einer selbständigen Stadt liegt die Sache ähnlich. Auch sie braucht offene Grenzen, nicht nur, weil ihre Bewohner in den Rest der Welt reisen wollen oder sogar müssen, sondern auch um all die Waren importieren zu können, die anderswo günstiger hergestellt werden oder die es in der Stadt gar nicht gibt. Die unabhängige Stadt muß weltoffen sein. Nur so kann sich die Stadt aller Vorteile internationaler Arbeitsteilung erfreuen. Es wundert nicht, daß Stadtstaaten wie Monaco, Andorra, San Marino oder Liechtenstein keine Zölle auf EU-Produkte erheben. Riesenreiche wie die Sowjetunion, die eine große Palette von Produkten und Dienstleistungen, wenn auch mehr schlecht als recht, selbst produzierte, können es sich tendenziell eher leisten, autark zu leben und Zölle zu erheben. Die Auswirkungen der schlechten Politik sind hier nicht so unmittelbar spürbar und sichtbar wie in Kleinstaaten. Daraus folgt: Je kleiner politische Einheiten, desto größer der Druck zu Freihandel und offenen Grenzen.

Offene Grenzen für Waren, Dienstleistungen und Kapital bedeuten nicht automatisch grenzenlose Einwanderung. Vor allem bei den heutigen sozialen Sicherungssystemen würde der Wohlfahrtswanderung in die soziale Abhängigkeit Tür und Tor geöffnet.

So wußte bereits der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman (1912–2006): „Man kann einen Sozialstaat haben – und man kann offene Grenzen haben. Aber man kann nicht beides gleichzeitig haben.“

Hier braucht es ein gut durchdachtes Einwanderungsgesetz. Nur so können Konflikte in der Gesellschaft verhindert werden. Kleine politische Einheiten bieten auch in dem Fall große Vorteile gegenüber Riesenstaaten. Nicht nur, daß kleine Staaten sehr genau darauf schauen werden, wer bei ihnen einwandert. Sie werden auch auf qualifizierten Fachkräften bestehen, die den Lebensstandard des Landes heben. Darüber hinaus kann man in einem kleinstaatlich geprägten Umfeld auch in einem anderen Land arbeiten, ohne zwingend dort wohnen zu müssen. Man kann zum Arbeiten pendeln, denn die Entfernungen sind gering.

Betreiben kleine Staaten eine unkluge Einwanderungspolitik, muß die Regierung befürchten, daß die eigene Bevölkerung das Weite sucht. Die Grenzen sind ja nicht fern.

Der institutionelle Wettbewerb erweist sich auch beim Geld als vorteilhaft. Der Familienvater wird die Familienmitglieder kaum zwingen können, ihre Geldreserven in einer von ihm emittierten und ständig an Wert verlierenden Währung zu halten. Die Mitglieder würden diese Währung ganz schnell in stabilere Alternativen umtauschen, die sie auch außerhalb des Hauses nutzen können. Für Stadtstaaten gilt ähnliches. Auch sie vermögen es kaum, ihren Bürgern eine Währung aufzuzwingen, die stärker an Wert verliert als die hinter den Stadtgrenzen verfügbaren Alternativen. Die Bürger würden einfach ihre Ersparnisse in der Währung der Nachbarstadt halten und notfalls dort Waren kaufen und verkaufen. Dies erklärt auch den Erfolg der Hamburger Mark Banco, die durch ihre relative Wertstabilität zum Symbol der Solidität des Hamburger Kaufmannes wurde.

Je größer das Staatsgebiet und je weniger politische Einheiten existieren, desto mehr wird der institutionelle Wettbewerb auch beim Geld ausgesetzt. Die Bürger sehen sich zunehmend alternativ- und wehrloser. Seit der Euro in Europa Einzug gehalten hat, haben Bürger der traditionellen Hochinflationsländer am Mittelmeer oder auch in Osteuropa nicht mehr die Chance, ihre Ersparnisse in D-Mark zu halten. Vor dem Euro konnten sie ihre schwachen Inlandswährungen verkaufen und in D-Mark eintauschen. Das war eine Art Sanktionsmechanismus für besonders unverantwortliche Geldpolitiker, die zusehen mußten, wie der Wert ihrer Währung zerrann. Heute ist der Währungswettbewerb passé. Zumindest in der Eurozone. Die Konkurrenz durch die D-Mark wurde ausgeschaltet und die Bundesbank entmachtet. Selbst den Deutschen fehlt heute diese Alternative. Auch sie sind im Euro gefangen. (...)

Als Zwischenfazit und allgemein gesprochen gilt: Je näher die Grenze zu einem anderen Land, um so leichter können die Menschen Bedingungen entkommen, die ihnen nicht zusagen, wie übermäßige Steuern oder Zölle, erdrückende Regulierungen, willkürliche Repressalien, Masseneinwanderung oder inflationäre Währungen. Je näher die nächste Grenze, um so leichter fällt die persönliche Standortveränderung. Somit sind kleine wirtschaftliche Einheiten ein Garant für die Freiheit der Bürger.

Kleine, im Wettbewerb stehende politische Einheiten würden technologisch und kulturell eine enorme Dynamik entfachen. Der politische Wettbewerb würde, wie auf Gütermärkten auch, die Qualität staatlicher Dienstleistungen

steigen lassen.

Heute keimt neue Hoffnung. Der Widerstand gegen die Zentralisierung in der EU wird größer. Der Brexit ist nur ein Ausdruck dieses Widerstandes. Zugleich vermag sich der Wettbewerb neue Wege zu bahnen. Denn den Staaten könnte bald neue Konkurrenz durch die Gründung freier, privater Städte ins Haus stehen, die sich wie ein gewinnorientiertes Unternehmen organisieren könnten. Erste Überlegungen in diese Richtung werden bereits angestellt. Der Mitgründer und frühere Vorstandsvorsitzende des Unternehmens Deutsche Rohstoff AG, Titus Gebel, widmet sich diesem Thema. Er zeigt sich überzeugt, daß sich alles, was man von Produkt- und Dienstleistungsmärkten kennt, auch auf das Zusammenleben von Menschen übertragen läßt.

In einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung im Juni 2016 schreibt Gebel: „Der Staatsbürger wäre auf einmal umworbener Kunde, der jederzeit den Anbieter wechseln kann, anstelle einer stets verfügbaren Melkkuh, die sich den Weggang durch Wegzugsbesteuerung erkaufen muß. [...] Der Betreiber ist Dienstleister, der sich Mühe geben muß und nicht einfach die Regeln zu Lasten der Kunden ändern kann, wenn es ihm gerade in den Kram paßt. Der Wettbewerb wird dafür sorgen, daß es zahlreiche unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens geben wird, für jeden Geschmack etwas Passendes. Die Grade an Freiheit, Innovation und Selbstverantwortung werden durchweg hoch sein. Und wem dies alles zuviel wird, geht einfach in All-inclusive-Systeme, die einem sämtliche Entscheidungen abnehmen. Nach spätestens einer Generation dürften solche privaten Systeme wohlhabender, freier und friedlicher sein als alles, was wir bisher kennen.“

Wenn der „Schutz des Wettbewerbs eine zentrale ordnungspolitische Aufgabe in einer marktwirtschaftlich verfaßten Wirtschaftsordnung“ ist, so wie es auf der Internetseite des Bundeskartellamtes steht, dann muß es einen Grund dafür geben, daß staatliche Monopole – darunter das Recht, Steuern erheben zu können – bei Kartellämtern und Monopolkommissionen durchs Raster fallen. Der Grund liegt auf der Hand: Während der Wettbewerb vorteilhaft für die Menschen ist, gereicht er den herrschenden Eliten zum Nachteil.

Kleine, im Wettbewerb stehende politische Einheiten würden technologisch und kulturell eine enorme Dynamik entfachen. Die Bürger könnten Überregulierung, Zölle und andere Eingriffe in ihre Freiheit einfacher sanktionieren. Der politische Wettbewerb würde, wie auf Gütermärkten auch, die Qualität staatlicher Dienstleistungen – vor allem den Schutz von Leib, Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger – steigen und die „Preise“ – also die Steuern – sinken lassen. Und wer würde nicht gerne weniger Steuern zahlen?






Professor Dr. Philipp Bagus, Jahrgang 1980, lehrt am Institut für angewandte Volkswirtschaftslehre an der Universität Rey Juan Carlos in Madrid und forscht mit Schwerpunkt auf Geld- und Konjunkturtheorie. Er wurde 2016 mit dem Förderpreis für Wirtschaftspublizistik der Ludwig-Erhard-Stiftung ausgezeichnet. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Papiergeld, Schulden-machen und den Niedergang der Familie („Subvention des Werteverfalls“,

JF 23/14).

Andreas Marquart, Philipp Bagus: Wir schaffen das – alleine! Warum kleine Staaten einfach besser sind. Finanzbuch-Verlag, München 2017, Hardcover, 160 Seiten, 14,99 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – ein adaptierter Auszug aus dem Buch.

Foto: Im Wettbewerb zwischen selbständigen Städten und Regionen: Freie Bürger, kulturelle Blüte und wirtschaftliche Dynamik