© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/17 / 28. April 2017

Mobilisierung gegen das System
Datenschutzdebatte 1.0: Im Frühjahr 1987 bewegten Proteste gegen die Volkszählung die Bundesrepublik
Jürgen W. Schmidt

Volkszählungen wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts für Verwaltungszwecke dringend notwendig. Anhand der  stetig anwachsenden Bevölkerungszahlen von Städten und Gemeinden konnte man auf kommunaler Ebene die Erweiterung und den Neubau von Kanalisationsanlagen, öffentlichen Gebäuden und der Verkehrsinfrastruktur, ebenso die notwendig werdende Einstellung von neuen Lehrern und Polizisten relativ leicht ermitteln. 

In Preußen fand eine erste allgemeine Volkszählung im Jahr 1816 statt. Später führte man im Königreich Preußen alle fünf Jahre immer Anfang Dezember Volkszählungen durch. Die Stadtväter von Oranienburg beispielsweise konnten nur dadurch wissen, daß am 1. Dezember 1890 in der Stadt 5.977 Einwohner, 1895 aber schon 6.910 Einwohner und genau fünf Jahre später gar 7.854 Einwohner lebten. Auch für die deutschen Bundesstaaten innerhalb des Deutschen Reiches waren exakt ermittelte Bevölkerungszahlen für einzuziehende, ebenso wie für zu verteilende Steuermittel aus Gründen fiskalischer Gerechtigkeit unbedingt erforderlich. 

Diese Tradition allgemeiner Volkszählungen setzte sich über Weimarer Republik und Drittes Reich bis in die DDR und die Bundesrepublik Deutschland fort. Nur fanden Volkszählungen nicht mehr alle fünf Jahre, sondern seltener statt, in der DDR beispielsweise 1950, 1964, 1971 und 1981. In der Bundesrepublik wurde die Volkszählung von 1950 infolge der Prozesse von Flucht und Vertreibung dazu genutzt, gleichzeitig eine allgemeine „Volks-, Berufs-, Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung“ durchzuführen. 

Ursprünglich war in der Bundesrepublik geplant, nach einigen weniger umfassenden Volkszählungen zur Erlangung statistischer Verwaltungsdaten im Jahr 1981 in Analogie zu 1950 wiederum eine „große“ Volkszählung durchzuführen. Doch wegen einiger Querelen zur Ermittlung der Höhe des Bundeszuschusses für die Volkszählung verschob sich der ursprüngliche Zähltermin vom Jahr 1981 auf 1983. Doch auch 1983 konnte nicht gezählt werden, denn nunmehr machte sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seinem vielbeachteten, absolutes juristisches Neuland beschreitenden „Volkszählungsurteil“ vom 15. Dezember 1983 störend bemerkbar. 

Grüne starteten Kampagne gegen die Regierung Kohl

Obwohl im Grundgesetz kein konkretes Grundrecht auf Datenschutz verankert ist, meinte das BVerfG in seinem steten Hang zur „Rechtssetzung“ hier die Notwendigkeit für gesetzliche Regelungen zu verspüren. Man erdachte und verfügte folglich ein Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, welches im Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wurzele. Das entzog den üblichen, bislang niemals angefochtenen Volkszählungen teilweise den Boden, und deren inhaltliches Konzept inklusive der notwendigen Maßnahmen zur Anonymisierung der Ergebnisse mußten grundlegend überarbeitet werden. 

Als neuer Termin der Volkszählung wurde nunmehr das Jahr 1987 festgelegt. Inzwischen hatten politische Kräfte um die damals aufblühenden Grünen und die „Friedensbewegung“ die geplante Volkszählung als ein exzellentes Mittel entdeckt, um den ungeliebten Staat und die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl vehement zu bekämpfen. Die Grünen bewiesen eine bewundernswerte Mobilisierungs- und Kampagnenfähigkeit unter großen Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung, und es gelang ihnen damals, nachhaltig das Vertrauen in den Staat und dessen Einrichtungen zu unterminieren. 

Es bildeten sich vielfältige Initiativen, welche im Vorfeld der Volkszählung von 1987 zu deren vollständigem Boykott aufriefen. Man warnte vor dem „Schnüffelstaat“ und verunsicherte die Bevölkerung, indem man pechschwarze Szenarien an die Wand malte, wie sich seitens staatlicher Stellen die künftige Verwendung durch die Volkszählung gewonnener Daten gestalten könnte und würde. „Bürgerrechtler“ wie Bernd Drücke mahnten, wenigstens die amtliche Kennummer aus dem Volkszählungsbogen vor Abgabe herauszuschneiden, weil dieser zur Auswertung dann nicht mehr tauge. Der Ratgeber „Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können“ verkaufte sich 250.000mal. 

Am 25. April 1987 durchsuchte schließlich sogar die Polizei die Geschäftsstelle der Grünen in Bonn und beschlagnahmte alle aufgefundenen Flugblätter gegen die Volkszählung. Es gelang seinerzeit die Deutschen nachhaltig zu verunsichern, indem mehr als 50 Prozent der Bevölkerung am Sinn der Volkszählung zweifelten. Wenngleich sich angesichts angedrohter Ordnungsgelder nur rund zwei Prozent der Befragten zum vollständigen Boykott der Volkszählung entschlossen, so war die Zahl nicht vollständig oder bewußt falsch beantworteter Fragebögen höher und dürfte wohl bei zehn Prozent und mehr gelegen haben. Ausgehend von diesem für die Bundesregierung insgesamt verheerenden, imageschädigenden Ergebnis, wagte seitdem keine Bundesregierung mehr, eine Volkszählung durchzuführen. Selbst nach der deutschen Vereinigung fiel die für 1991 vorgesehene Volkszählung aus. Man ersetzte die fehlenden Volkszählungen durch den sogenannten „Mikrozensus“, indem eine nach dem Zufallsprinzip durchgeführte Zählung bei kleinen Gruppen von Haushalten zu allgemeingültigen Auswertungen „hochgerechnet“ wird. 

Mikrozensus läßt statistische Ungenauigkeiten wachsen

Dieses Behelfsmittel bedingt erhebliche, im Laufe der Zeit noch anwachsende statistische Unsicherheiten. Durch das in den einzelnen Bundesländern immer liberaler werdende Umzugs- und Personenstandsrecht werden die aussagefähigen Grundlagen für Mikrozensushochrechnungen zusätzlich ungenau und die chaotischen Migrationsprozesse nach 2015 taten ein übriges, vorhandene Klarheiten zu verwischen. Es ist zu konstatieren, daß unter Reichskanzler Bismarck deutsche Verwaltungsbehörden exakteres statistisches Material für Verwaltungszwecke besaßen als in der Ära der Bundeskanzler von Kohl bis Merkel. 

Zusätzlich hat sich seit dem erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf dem Feld des Datenschutzes ein lähmendes Dickicht juristischer Überbürokratisierung entwickelt. Diese Überbürokratisierung bewirkt eine paralysierende Ausstrahlung, welche Staat wie Wissenschaft daran hindern, notwendige, einst problemlos zugängliche Informationen zu erheben und zum allgemeinen Nutzen zu verwenden.