© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

„Schlimmer als die Flucht aus Vietnam“
Fluggastrechte: Flugüberbuchungen gibt es nicht nur bei United Airlines / Deutsche Urlaubsreisende fliegen rauswurfsicherer als die Business-Class
Heiko Urbanzyk

War Flug UA3411 von Chicago nach Louisville in Kentucky schlimmer als die Flucht aus Vietnam? Seine zwangsweise Entfernung aus einem United-Express-Flugzeug bezeichnete der Anwalt von David Dao gegenüber den Medien als schlimmer als die Bootsflucht aus Vietnam im Jahr 1975. Eine gebrochene Nase und zwei ausgeschlagene Zähne waren die Folgen des Rauswurfs. Der 69jährige, der in Elizabethtown unweit des US-Goldlagers Fort Knox lebt, wurde durch das Sicherheitspersonal über den Kabinenboden des zweistrahligen Kurzstreckenjets Embraer 170 hinausgeschleift.

Kampf um mehr Erscheinungsdisziplin

Dao soll später benommen und blutend durch den Chicagoer Großflughafen O’Hare geirrt sein. Der Lungenarzt war kein Terrorist oder sonst gefährlicher Fluggast. Der Flug 3411 war schlicht überbucht. Nachdem niemand freiwillig ausstieg, auch nicht gegen die Zahlung von 400 Dollar, wurde Dao angeblich per Zufall ausgewählt – aber er weigerte sich. Ein Internetvideo zeigt den bizarren Vorfall, der zum kostspieligen „Image-GAU“ für die zweitgrößte US-Fluggesellschaft United Airlines (UA) – die Mutter von United Express – wurde. 

Der Vorfall in den USA löste weltweit eine Diskussion über Fluggastrechte und die gezielte Überbuchung von Flügen aus. Leere Plätze im Flugzeug schmälern die Rentabilität des Geschäftes. Buchungen, die durch die Passagiere gar nicht angetreten werden, nennt die Branche „No-Shows“. Die Lufthansa spricht von jährlich drei Millionen No-Shows, die es durch Überbuchungen abzufedern gilt. 2014 war noch von 1,8 Millionen die Rede. Es gibt offenbar eine Tendenz, den Flieger sausen zu lassen, auch ohne Verspätungen von Anschlußflügen.

Lufthansa-Sprecherin Anja Lindenstein berichtete dem Spiegel von Prognosesystemen, die aus Erfahrungswerten die voraussichtliche Passagierzahl eines Fluges berechnen. Geprüft wird der aktuelle Buchungsstand für einen Flug und dann berechnet, wie viele Buchungen bis zum Abflug noch erwartet werden. „Weitere Faktoren bei der Buchungsprognose sind externe Einflüsse wie Messen, Jahreszeiten oder Ferienzeiten“, sagte Gerd Pontius, Vorstand der Unternehmensberatung Prologis, dem Luftverkehrsnachrichtenportal Airliners.de. Mathematische Systeme bilden die Prognosen ab, hinzu kommt das Bauchgefühl der Manager. Aus der Vorhersage, wie viele Gäste trotz Buchung ihren Flug nicht antreten werden, folgt die mögliche Überbuchung durch die Fluglinie. Airliners.de geht von zehn Prozent Überbuchungen pro Flug aus.

Warum treten Kunden ihren Flug nicht an? Gründe sind laut Verbraucherzentrale Niedersachsen bei Business- und First-Class-Kunden die flexiblen Umbuchungsbedingungen: „Dauert ein Meeting oder der Geschäftstermin länger, nehmen sie ohne Aufpreis eine spätere Maschine.“ Die Flugbranche bestätigt dies. Häufig würden Geschäftsleute sogar mehrere Flüge gleichzeitig buchen, obwohl natürlich nur einer davon tatsächlich genutzt werden könne.

Doch auch in der Holzklasse („Economy“) komme es immer wieder zum Nichterscheinen von Passagieren. Kunden nähmen bei günstigen Tickets den finanziellen Schaden eher in Kauf, wenn ihnen etwas dazwischenkomme. Eine „höhere Erscheinungsdisziplin“ bewirken laut Experten wie Pontius solche Buchungen, die bei Nichtantritt verfallen. Flexible Tarife werden hingegen ebenso flexibel nichtgenutzt. 

Während die Business-Rennstrecken ein hohes Überbuchungsrisiko tragen, ist dieses auf klassischen Urlaubsrouten eher gering. Wer in der Ferienzeit in den Urlaub möchte, hat dies regelmäßig von langer Hand geplant und möchte wirklich „seinen Flieger bekommen“ – nicht irgendeinen. Und wenn das aufgrund Überbuchung nicht klappt? Lufthansa verspricht, das werde schon im Flughafenterminal beim Einchecken geklärt. Zu aufsehenerregenden Rausschmiß­szenen wie bei UA soll es erst gar nicht kommen. Allerdings: Die Lufthansa ist mit UA durch die Luftfahrtallianz Star Alliance verbunden. Die Lufthansa fliegt zwar mit der neuen Boeing 747-8I bis Chicago, von dort aus geht es aber weiter mit UA bzw. United Express. 

Künftig 10.000 Dollar Verzichtsprämie in den USA

Wer einen anderen Flug angeboten bekommt, sollte laut Verbraucherzentralen sehr gut prüfen, ob er auf das Angebot eingehen möchte. Wer sich auf den Kuhhandel einläßt, hat Anspruch auf den neuen Alternativflug – sonst nichts. Dabei dürfen Familien und Reisegruppen grundsätzlich sogar getrennt werden. Bei Zweifeln raten Verbraucherschützer daher dazu, auf das Antreten des ursprünglichen Fluges zu pochen. Immerhin stellt die Mitteilung am Check-in auch eine Art Überrumpelung dar. Wer auf seinen gebuchten Flug besteht, kann dennoch gegen seinen Willen aufgrund Überbuchung zurückgewiesen werden. Diese Art der Nichtbeförderung stellt juristisch eine Annullierung des Fluges dar.

Die Europäische Fluggastrechteverordnung (EG 261/2004) gesteht dem geprellten Fluggast dann Rechte zu. „In Fällen der Annullierung hat der Fluggast die Wahlmöglichkeit, sich die Flugscheinkosten erstatten zu lassen, eine anderweitige Beförderung einzufordern und gegebenenfalls einen Rückflug zum ersten Abflugort durchzuführen“, informiert das Luftfahrtbundesamt (LBA).

Die Braunschweiger Behörde überwacht die Durchsetzung der Fluggastrechte und ist zugleich Schlichtungsstelle zwischen Verbrauchern und Fluglinien. Ansprüche auf weitere Betreuungsleistungen im Falle der überbuchungsbedingten Annullierung, wie zum Beispiel Verpflegung, Telekommunikationsmöglichkeiten, die Hotelunterbringung und der Transfer zwischen Flughafen und Hotel hängen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.

Dem abgewiesenen Kunden steht ein pauschaler Schadenersatz in Abhängigkeit von der Reisedistanz zwischen 250 Euro (Flüge unter 1.500 Kilometern) und 600 Euro (Flüge ab 3.500 Kilometern) zu. Einzelfallbedingt kann die Fluglinie die Ausgleichszahlung um die Hälfte kürzen. Dies gilt, wenn etwa für einen 1.500-Kilometer-Flug ein Ersatzflug angeboten worden ist, der nicht mehr als zwei Stunden später als der ursprünglich gebuchte Flug am Reiseziel angekommen wäre. Mit Hilfe des LBA läßt sich das Gros derartiger Probleme bewältigen. Im Internet ist die Geltendmachung der Ausgleichspauschale darüber hinaus das Geschäftsmodell verschiedener Anbieter. Der Reisende zahlt an diese jedoch regelmäßig die Hälfte seines Schadenersatzes als Honorar.

In den USA hatte der UA-Rauswurf-Vorfall gravierendere Folgen. Marktführer Delta Airlines kündigte an, einzelne Fluggäste mit bis zu 10.000 Dollar (statt bisher 1.350 Dollar) aus der überbuchten Maschine „herauszukaufen“. UA zog vorige Woche nach und verspricht, künftig auch bis zu 10.000 Dollar für den Sitzplatzverzicht zu zahlen. Ob das nicht ein neues Geschäftsmodell für finanziell klamme Reisende werden könnte?

Schlichtungsstellen Luftverkehr:

 soep-online.de 

 www.lba.de