© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Pankraz,
der Flüchtling und die Völkerwanderung

Der Titel eines aus dem Englischen übersetzten Buches der beiden Oxforder Migrationsforscher  Alexander Betts und Paul Collier, das jüngst im Münchner Siedler-Verlag erschienen ist (336 Seiten, gebunden, 24,99 Euro), lautet „Gestrandet“. Der englische Originaltitel ist „Refuged“ („Geflüchtet“), was nicht dasselbe bedeutet. Die Differenz verdient, extra angeleuchtet zu werden, weil die Professoren Betts und Collier größten Wert darauf legen, das Problem der Migration mit angestrengtester  Sachlichkeit darzulegen.

 Ein Flüchtling wird normalerweise nicht an einem Strand angespült, sondern er reißt vor irgendwem aus, sucht Schutz und Asyl für eine gewisse Zeit fern der Heimat. Diesen Status des Flüchtlings endlich einmal genau, sine ira et studio, herauszuarbeiten, ist das Ziel von Betts und Collier. Sie sparen nicht mit scharfer Kritik an den bisherigen nationalen und internationalen Maßnahmen in der sogenannten Flüchtlingspolitik, nicht zuletzt an der berüchtigten „Willkommenskultur“ der Angela Merkel. Doch was haben sie selbst dagegen aufzubieten?

Flüchtlinge, verkünden  sie in ihrem Buch, „sind Menschen,  die Furcht vor ernsthaftem physischem Schaden haben“. Die aufnehmenden Staaten sollten sich also endlich der Frage stellen: „Wann ist ein vernünftiger Mensch der Ansicht, daß ihm keine andere Wahl bleibt, als zu fliehen?“, um darüber so bald wie möglich definitive internationale Abkommen zu beschließen und auch wirklich durchzusetzen. Denn das Schlimmste an der augenblicklichen Weltsituation sei das „permanente Wegschauen“ beziehungsweise das „spontane Reagieren aus dem bloßen Gefühl heraus“.


Gut gemeint ist hier offenbar wieder einmal das Gegenteil von gut. Betts und Collier verlangen mit professoralem Großpathos eine verläßliche globale Regelung der Flüchtlingsfrage, aber wer nun wirklich ein Flüchtling ist, dem unbedingt geholfen werden muß – das verraten sie nicht. Ihr Hinweis auf die „Furcht vor ernsthaftem physischem Schaden“ taugt wenig. Es gibt psychische und intellektuelle Zumutungen, die mindestens ebenso schwer zu ertragen sind wie physische Schäden und mancherlei Grund zu nur allzu verständlicher Flucht böten. Aber das ist ein fast unendlich weites Feld.

Zur Zeit, lesen wir in dem Buch „Refuged“, sind nach verläßlichen Schätzungen mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht; und die Zahl soll sich in den nächsten zehn Jahren zumindest verdoppeln, wenn die Bevölkerungsexplosion speziell in Afrika anhält. Man irrt sich gewiß nicht, wenn man vermutet, daß nur ein kleiner Teil von ihnen unter die Definition von Betts und Collier paßt. Der größte Teil der neuen „Flüchtlinge“ wird eher einer Art von „Welteroberern“ angehören, wie sie einst schon Knut Hamsun beschrieben hat: selbstbewußte Sucher nach einem „besseren“ Leben, in welchem Land dieser Welt auch immer.

Man kann es sich gut vorstellen. Da sitzt etwa in Eritrea oder Somalia ein Familienoberhaupt und zählt die Häupter seines Clans. Er hat drei Frauen und siebzehn Kinder. „Wenn wir uns jetzt“, kalkuliert er, „bei einem Schlepper Plätze auf einem Schlauchboot nach Malta kaufen und schließlich in Deutschland ankommen, kriegen wir dort Sozialhilfe und für jedes Kind noch einmal ein Extrageld. Davon können wir besser leben als hier und nebenher sogar noch ein bißchen Drogenhandel betreiben. Da lohnt sich das Risiko eines eventuellen Strandens.“

Was weiter auffällt in dem zornigen Buch der beiden Oxforder Migrationsforscher: Das Wort „Völkerwanderung“ („migration of nations“) kommt dort nicht vor, trotz der so deutlich namhaft gemachten Millionen, die zur Zeit als Migranten unterwegs sind. Steckt da Absicht dahinter?

Bisher wurden doch alle großen und andauernden  Migrantenströme der Weltgeschichte von der Wissenschaft als „Völkerwanderung“ markiert: die Wanderungen der keltischen, germanischen und hunnischen „Barbaren“, die das weströmische Reich zum Einsturz brachten, die jahrhundertelangen Wanderungen der Mongolen  in Richtung Osten, gegen die sich die Chinesen nur durch den Bau einer gewaltigen Mauer, der „chinesischen Mauer“, zu schützen wußten, schließlich die Einwanderung von Europäern in Nord- und Südamerika, der die indigene Indianerkultur zum Opfer fiel.


Sicherlich, nicht jede wandernde Millionenmasse ist ein Volk, geschweige denn eine Nation im modernen Sinne. Man kann aber auch nicht guten Gewissens von 65 Millionen Einzelwanderern sprechen. Ab einer gewissen Anzahl von Migranten entsteht eine Bewegung, die nur mit eigenem Vokabular beschrieben werden kann. Was zur Zeit unterwegs ist, sind Angehörige von „failed states“, „gescheiterten“ Staaten oder Stammesgemeinschaften, die es nicht vermögen oder gar nicht daran interessiert sind, ihre heimatlichen Verhältnisse in Ordnung zu bringen beziehungsweise in Ordnung zu halten.

Sie wandern nun in fremde Staaten ein, nicht um sich deren Ordnung anzupassen, sondern – ganz wie einst die alten Germanen, Hunnen, Mongolen oder Amerika-Einwanderer – ihre eigenen Ordnungs- beziehungsweise Unordnungs-vorstellungen durchzusetzen, die Alteinwohner auszunützen, sie übers Ohr zu hauen, sie zum „rechten Glauben“ zu bekehren und sie eventuell gänzlich zum Verschwinden zu bringen. Daß die gelernten Migrationsforscher Betts und Collier diese realistischen und historisch beglaubigten Perspektiven einfach ignorieren, macht ihr Buch buchstäblich überflüssig.

Sein deutscher Titel, „Gestrandet“, umreißt ihre eigene Misere als Wissenschaftler. Gegen sie wäre festzuhalten: Völkerwanderungen sind, wie alle anderen Formen von „Welteroberung“, keine historischen Glücksfälle, sondern Unfälle. Die Chinesen haben dafür ein machtvolles Abwehrsymbol aufgerichtet. Ihre „chinesische Mauer“ ist übrigens das einzige Zeichen menschlicher Anwesenheit auf Erden, das auch aus dem Weltraum zu erkennen ist.