© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Wahrhaftigkeit statt Wahrheit
Kino: Lars Montag hat den Roman „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ von Helmut Krausser verfilmt
Sebastian Hennig

Frauke Finsterwalder und Christian Kracht haben 2013 mit „Finsterworld“ ein bestrickendes Panorama der Beklemmungen der deutschen Seele ausgebreitet. Die Bildmetaphern dazu haben sie mit viel Freude für Orte und Situationen direkt der Wirklichkeit entnommen. Eine artifizielle Optik hat das Geschehen zugleich überhöht und zugespitzt. Insgesamt wirkt der Film sowohl böse als auch barmherzig. Die Figuren haben episches Format. Sie sind krank in der Seele. Doch die Symptome ihrer Krankheit sind das Ergebnis einer normalen Reaktion auf die verworrenen Verhältnisse. Daß eine so mitfühlend-gnadenlose Selbstbespiegelung im deutschen Kino seither nicht mehr stattgefunden hat, ist vor allem wohl der Tatsache geschuldet, daß dergleichen nicht gewollt ist. Der Regisseur Lars Montag weiß von den Schwierigkeiten bei der Finanzierung seiner Romanverfilmung „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ zu berichten: „Es gab mehrere Absagen mit der Begründung: politisch nicht korrekt genug. Was das Projekt aus meiner Sicht ja adelt.“ 

Tatsächlich geht es gleich mit einer solchen Szene los: Der Polizist Thomas Stern (Jan Henrik Stahlberg) angelt ins Leere, als er vorm Aussteigen während einer Bahnfahrt seine teuren Treter unter dem Sitz sucht. Er schaut sich nach einem Verdächtigen um und schließt auf einen Mulattenknaben, welcher sich zudem unpassenderweise im Gang des Eisenbahnwagens exzessiv dem Ballspiel hingibt. Der Wortwechsel wird rasch heftig. Ein Einspruch der Mutter wird mit dem Verweis auf den Streitwert abgewiesen: „Aus Pferdeleder. Das kannst du dir gar nicht leisten, du Affenmutti“.

Ganz beiläufig begegnen wir viel später dann den vermißten Schuhen an den Füßen des Strichers Vincent (Eugen Bauder), der auf geschmeidigen Sohlen der Ärztin Julia König (Eva Löbau) sexuelle Entkrampfung bringen soll. Die läßt sich ihre Wünsche ordentlich etwas kosten. „Also, Sie können mit Maßen Macht über mich ausüben, so als würden sie mich zu etwas zwingen.“

Frau Doktors abgelegter Mann Uwe (Peter Schneider), Marktleiter im Einzelhandel, geht weniger preis-intensiv auf die Balz. Er sucht eine neue Kopulationspartnerin über das Netz. Bei der „Nixe 74“, die sich von dem Kaufmann im Waschraum einer Diskothek penetrieren läßt, handelt es sich um die Künstlerin Janine (Katja Bürkle). Die hat ihrerseits wiederum Vivian (Lara Mandoki), Geliebte und Kollegin des Schuhdiebes Vincent, als lebendigen Bildträger gebucht. Der ist es gleichgültig, ob und wie ihre taktilen Fertigkeiten von der zahlenden Kundschaft in Anspruch genommen werden. Kunst oder Koitus ist einerlei. Doch als Janine von ihrem Werk Fotos machen will, beginnt sie zu rebellieren. Denn Vivian hat mit Vincent eine Abmachung getroffen: Er ejakuliert nicht während der (Sex-)Arbeit, und sie läßt sich dabei nie fotografieren. Ebenso frustriert wie die Künstlerin bleibt also auch die Ärztin zurück. 

Schließlich gibt es da noch die Dreiecksbeziehung zwischen den Teenagern Swentja (Lilly Wiedemann), Mahmud (Hussein Eliraqui) und Johnny (Aaron Hilmer). Die 14jährige Swentja teilt aber auch ein Geheimnis mit dem pensionierten Lehrer Ecki (Bernhard Schütz), während Johnny im Ringen zwischen seinem natürlichen Begehren für Swentja und den christlichen Geboten wollüstige Zuflucht bei Madame Cinque findet. So weit, so übel.

Was aber gehen uns diese schematischen Probleme abstrakter Minderheiten an? Der facettenreiche konkrete Mensch verschwindet hinter diesen reduzierten Triebwesen. Noch tiefer als solche Kreaturen muß man gesunken sein, um Anteil an derart haarsträubenden Geschichten zu nehmen. Pack schlägt sich und Pack verträgt sich. Wie könnte daraus eine Geschichte entstehen? Der voyeuristische Naturalismus spitzt das Geschehen bis zur Bedeutungslosigkeit zu. Die Mixtur aus Charakteren und Episoden wirkt wie jene bunten Untersetzer aus Kunstoffperlen, die im Backofen zu einem schrillen Muster zusammengeschmolzen sind.

„Einsamkeit und Sex und Mitleid“ ist eben so etwas wie „Finsterworld“ für Dummies. Einige gute Bonmots können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Menschen in diesem empathielosen filmischen Konglomorat als klägliche soziale Konstrukte gezeichnet sind. Gemeinschaft gibt es nur als Gesellschaft und Schicksal als Zufall. Poesie findet nicht statt.