© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/17 / 05. Mai 2017

Wer bin ich?
Nachruf: Die Suche nach Identität war das zentrale Thema des kürzlich verstorbenen Historikers und Kultursoziologen Henning Eichberg
Karlheinz Weißmann

Es geht ein Gespenst um. Das Gespenst des „Ethnopluralismus“. In keiner Abhandlung über die „Neue Rechte“, das Netzwerk der aktuellen Konservativen Revolution, die ideologischen Grundlagen der AfD darf das Stichwort fehlen. Es steht nach Meinung der Kritiker für verkappten Rassismus. Kaum einer macht sich die Mühe, den Begriff genauer zu klären, denn dann käme etwas heraus, was den Entlarvern kaum genehm wäre: Ethnopluralismus heißt nichts anderes, als daß Völker oder Ethnien – nach ethnos, dem griechischen Wort für Volk – nur im Plural, also in einer Vielzahl, da sind, daß die Anerkennung dieses Sachverhalts immer bedeutet, auch das Existenz- und Verteidigungsrecht der betreffenden Gemeinschaften anzuerkennen.

Ethnopluralismus ist also eine Art Multikulturalismus von rechts, eine wirklichkeitsnähere und deshalb tief humane Variante. Man kann die Ursprünge dieses Konzepts tatsächlich auf bestimmte jungkonservative Lehren vom „eigenständigen Volk“ (Max Hildebert Boehm) zurückführen, aber eher noch auf Herder und jene Utopie des brüderlichen Nationalismus, der im „Vormärz“ entstand, dem „Völkerfrühling“ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Wenn sonst nichts bleibt von Henning Eichbergs Arbeit am Begriff, dann doch dieser Terminus, zusammen mit einem zweiten: „Identität“. Auch da besteht eine Parallele zur Gedankenwelt der Linken, insofern als Identität nach ’68 eine Art Schlüsselformel für die Aufhebung individueller und kollektiver Entfremdung wurde. Eichberg faßte das Ganze wesentlich prosaischer, insofern er unter Identität das anthropologische Bedürfnis nach Beantwortung der Frage verstand, wer ich als einzelner und wer ich als Teil der Gruppe bin, der ich zugehöre.

Identität war für Eichberg auch und gerade für seine Forschung als Soziologe ein „Kernbegriff“: „Was hat die dänische ‘hygge’ (eine unübersetzbare Gemütlichkeitsform) gemeinsam mit Begräbnispfosten malaiischer Völker und mit dem islamischen Schleier? Wonach sucht die Berufsgruppe der Lehrer ebenso wie die arbeitslose Frau im Vorort Albertslund? Worauf weist das farbige Haar des Punkers hin ebenso wie eine Hymne von Grundtvig? Allen gemeinsam ist das Markieren von oder die Suche nach Identität.“

Die Suche nach Identität war das Lebensthema Eichbergs. Ein Sachverhalt, der nicht zu trennen ist von seiner eigenen Biographie. Er kam am 1. Dezember 1942 im schlesischen Schweidnitz zur Welt und wuchs im Nachkriegsdeutschland als Flüchtlingskind heran. Zu Beginn der sechziger Jahre fand er Anschluß an „nationaleuropäische“ Kreise der radikalen Rechten, entschied sich aber zum Eintritt in die CDU.

Der Aufstieg der NPD einerseits, der studentischen Linken andererseits führte dann zu einem Kurswechsel. Eichberg hatte zu dem Zeitpunkt schon Kontakt zu französischen Gruppen, die an den Aufbau einer „Neuen Schule“ (Nouvelle Ecole war der Titel ihres Theorieorgans) gegangen waren. Daß diese „Neue Schule“ auch als „Neue Rechte“ gedacht war, stand außer Zweifel. Neu war sie insofern, als sie die Belastungen der „alten Rechten“ – Rassismus, Imperialismus, Antisemitismus, Kapitalismus – hinter sich lassen sollte.

Distanzierung von früheren Ansichten 

Auch wenn es sich nicht einfach um einen Reflex auf die Neue Linke handelte, gab es doch denselben Impuls zur Distanzierung von tradierten Irrtümern und die für den Zeitgeist typische Überzeugung, daß Politik eine formulierte, letztlich wissenschaftliche Basis brauche. Was man in jedem Fall von der Linken übernahm, war der revolutionäre Gestus. Nicht, daß Gruppierungen wie die von Eichberg mitgegründete „Sache des Volkes – Nationalrevolutionäre Aufbauorganisation“ jemals in der Lage gewesen wären, einen Umsturz vorzubereiten oder herbeizuführen, aber die Vorstellung selbst übte auf die Jungen in dieser „Neuen Rechten“ außergewöhnliche Anziehungskraft aus.

In jedem Fall galt das für Eichberg, der allerdings erkennen mußte, daß er – anders als seine linken Kommilitonen – kaum Revolutionsvorbereitung neben einer akademischen Karriere betreiben konnte. Er wurde zwar im Fach Geschichte promoviert und im Fach Soziologie habilitiert, aber eine Berufung war in Westdeutschland ausgeschlossen. Eichberg hat auf den Druck, der gegen ihn ausgeübt wurde, auf zweierlei Weise reagiert: durch die Umdeutung seiner eigenen – nationalrevolutionären – Position als einer linken, und durch das Ausweichen nach Dänemark, wo er seit 1982 als Hochschullehrer arbeiten konnte. Seine Veröffentlichungen, vor allem auf dem Feld der Kultur- und Sportsoziologie, fanden im Laufe der folgenden Jahrzehnte zunehmend internationale Anerkennung. 

Mochte der Übergang auf die Linke anfangs taktische Gründe gehabt haben, auch mit der grundsätzlichen Sympathie für den „Befreiungsnationalismus“ der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas oder der Regionalisten Europas zu erklären sein, wird man seit den achtziger Jahren bei Eichberg auch eine prinzipielle Veränderung seiner weltanschaulichen Positionen feststellen müssen. Das hatte weniger mit den strukturalistischen und materialistischen Grundannahmen seiner Soziologie zu tun, mehr mit dem Bedürfnis nach Distanzierung von früheren Ansichten und alter Heimat. Über die Rechte sprach Eichberg jetzt nur noch in höhnischem Tonfall, über Deutschland in einer Mischung aus Herablassung und Ahnungslosigkeit.

Es spielte dabei sicher persönliche Enttäuschung und Rechtfertigungsbedürfnis eine Rolle, aber ausschlaggebend war doch etwas, das man den unpolitischen Zug seines Denkens nennen muß. Gemeint ist damit das notorische Absehen von der Bedeutung konkreter Machtfragen, selbst in der aktivistischen Phase seines Lebens, die Neigung, das eigentlich Politische unter Hinweis auf die Geschichtsphilosophie (der „Fortschritt“) oder die Moral (das Eigenrecht der „Kultur“, der unbezweifelbare Sinn der „Emanzipation“) zu umgehen und es sich dadurch leicht zu machen oder die Möglichkeit zu ergreifen, ins Unverbindliche auszuweichen. Gegen Einreden blieb er taub, von seinen Anfängen wollte er nichts mehr wissen oder behandelte sie wie bei Konvertiten üblich.

Henning Eichberg verstarb am 22. April dieses Jahres.