© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Grüße aus Bern
Nur zwei Minuten
Frank Liebermann

Fünf Minuten vor der Zeit ist des Deutschen Pünktlichkeit! Diese grandiose Weisheit lernte ich während meines Wehrdienstes. Nachdem ich das zweite Mal zu spät zum Antreten erschien, mußte ich den Satz einhundertmal nach Dienstschluß schreiben.

Seit ich in der Schweiz lebe, fällt mir dieser geistreiche Spruch immer wieder ein. Zum Beispiel wenn ich morgens am Bahnhof auf den Zug warte. Dieser kommt fast immer pünktlich. Wenn der Zug um 7.34 abfahren soll, steht er um 7.32 Uhr da. Die Pendler steigen zackig ein und wenn der Zeiger der Bahnhofsuhr die Minute wechselt, fährt der Zug pünktlich ab.

 Es gibt aber auch wenige Tage im Jahr, an denen die Züge verspätet sind. So geschah es auch nun, als der Winter spontan im Frühjahr zurückkam. Zur geplanten Abfahrtszeit stand kein Zug da. Die mit mir wartenden Personen waren teilweise verstört. Sie begannen miteinander zu reden, was für Berner eher untypisch ist. 

Sofort begriff ich meinen Fehler: ich war bei einer neu zugezogenen Deutschen zu Gast!

Allerdings schimpften sie nicht, sie waren eher besorgt. Wo bleibt der Zug? Ist etwas passiert? Als dann gegen 7.36 Uhr die Lichter des Zuges von weitem sichtbar erschienen, trat Entspannung ein. Einige Reisende wirkten gestreßt, sie tippten Verspätungsnachrichten in ihre Smartphones oder meldeten telefonisch, daß sie fünf Minuten später zur Sitzung kommen.

Auch der Inhaber des Supermarktes in meiner Nachbarschaft bekommt den Pünktlichkeitswahn zu spüren. Als gut integrierter Albaner hat er die Schweizer Sitten noch nicht vollkommen verinnerlicht. Dafür wird er von munteren Rentnern gern gemaßregelt. Letztens beobachtete ich, wie ihm ein älterer Herr mit engagiertem Klopfen auf die Uhr zeigte, daß er sein Geschäft zu spät geöffnet habe. Es war 8.02,  zwei Minuten zu spät!

Pünktlichkeit zählt aber auch im Privatleben. Wenn in der Schweiz auf 17 Uhr zu einer Party eingeladen wird, dann sind alle Gäste spätestens um 17.05 Uhr da. Das sich tröpfchenweise Einfinden nach Belieben ist verpönt. Schließlich könnte es ja gleich zu essen geben, da will niemand warten. 

Auch ich mußte mir diesen deutschen Schlendrian abgewöhnen. Bei meiner letzten Einladung erschien ich auf die Minute genau zur veranschlagten Uhrzeit. Als ich ankam, herrschte noch Chaos. Die Gastgeberin rannte hektisch hin und her, drückte mir ein Bier in die Hand und erklärte, sie verschwinde schnell, um sich noch umzuziehen. Sofort begriff ich meinen Fehler: Ich war bei einer neu zugezogenen Deutschen zu Gast!