© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/17 / 12. Mai 2017

Der Recke fleht um ein Taschentuch
Hymnus der Schadenfreude: Verdis lyrisches Drama „Otello“ an der Semperoper Dresden
Sebastian Hennig

Zu seinem Antritt als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle vor fünf Jahren kündigte Christian Thielemann an, sich gelegentlich mit der Musik von Dmitri Schostakowitsch und des späten Giuseppe Verdi beschäftigen zu wollen. (JF 36/12) Die erste Verheißung löste er bald darauf, zumindest symbolisch, ein, indem er dem Kuratorium der Schostakowitsch-Tage in Gohrisch beitrat. Mit der Premiere von Verdis „Otello“ in Dresden hat er die zweite nun ebenfalls erfüllt.

Der Chef ist in Dresden kein wirklicher Resident geworden. Er bleibt nicht mehr als ein seltener Dauergast im Orchestergraben der Semperoper. Wie schon bei „Arabella“ und im letzten Jahr „Cavalleria rusticana / Pagliacci“ handelt es sich auch bei „Otello“ um eine Koproduktion mit den Salzburger Osterfestspielen. Die „Cavalleria“ gelangte im vergangenen Jahr in Dresden ohne Christian Thielemann zur Aufführung. Den neuen „Parsifal“ hat die Dresdner Kapelle bisher gar nur an der Salzach zelebriert. Wahrscheinlich vermutet die Musikindustrie, daß hinter den Bergen des Salzkammergutes zumal bei den sächsischen Zwergen die Schüsselchen und die Mägen kleiner sind. Und tatsächlich waren zur Dresdner Premiere des „Otello“ viele Plätze unverkauft. 

Dabei brandete Verdis Musik gleich in der ersten Szene mit düsterer Schönheit an. Mit diesem Zauber von Orchester, Chor und Kinderchor konnte an diesem Abend allein Andrzej Dobber als Jago Schritt halten. Stephen Gould (Otello) und Dorothea Röschmann (Desdemona) waren zwar gut in Form. (Ein derber stimmlicher Patzer von Gould gleich zu Beginn war die Ausnahme einer sehr regelmäßig guten Sangesleistung.) Die in Bayreuth erprobten Dresdner Sänger Christa Mayer (Emilia) und Georg Zeppenfeld (Lodovico) hatten kurze, aber prägnante Auftritte. Dennoch ist die musikdramatische Offenbarung ausgeblieben.

Jago verfolgt eine Politik der Interessen, nicht der Werte

Mit Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ hat der „Otello“ von Arrigo Boito wenig zu schaffen. Das Werk der beiden großen Italiener sollte besser „Iago“ heißen. Die ganze Aufmerksamkeit ist darin auf die Manipulation der Gefühle gerichtet. Boito gibt Verdi im April 1891 eine Art Marketing-Regie vor, indem er zu bedenken gibt, sich von dem Opernpublikum alter Provenienz abzuwenden und der Gunst des bürgerlichen Massenpublikums zu versichern, „die wenig bezahlen und sich bei passender Gelegenheit köstlich amüsieren.“

Über die hehren Tugenden der Barockoper triumphiert im „Otello“ der schnöde Trieb zur Schadenfreude. Auch Shakespeares Othello eignet sich wenig zum Mitgefühl. Sein Drama birgt die Katharsis einer blinden Eifersucht. Verdi/Boitos Jago ist bereits ein Übermensch in Nietzsches Sinne, der jenseits von Gut und Böse seine dunkle Politik ins Werk setzt. Sein Unglaubensbekenntnis tönt ruppig und mit standfester Dämonie: „Der Himmel ist das Nichts. Der Tod eine alte Fabel.“ Jago ist ein Taktiker, der eine Politik der Interessen und nicht der Werte verfolgt. Die Regie gesellt ihm einen schwarzen Engel (Sofia Pintzou) zu. Der soll das Pendant zu Otellos weißgewandeter Desdemona mit dem langen blonden Genoveva-Haar sein. Durch diesen pantomimischen Widerpart erscheint Desdemona noch passiver. Der farbige Recke gibt sich im Angesicht dieses sanften Glanzes schwach und beinahe weinerlich. Er gebärdet sich wie Wagners Siegfried, der furchtlos den Drachen erschlug, um sich vor einem Weibe zu ängstigen.

In der Renaissancemalerei gab es den Begriff der Aemulatia, eines agonalen Strebens, in dem die Maler sich gegenseitig in der Steigerung übernommener Bildschöpfungen zu übertreffen suchten. Verdi hat ähnlich auf seinen deutschen Mitbewerber um das Entsetzen und Entzücken des Publikums reagiert. Wenn die Großen auf dieser Ebene miteinander ringen, sind wir, das Publikum, allemal die Gewinner. Wie ein anderer Tannhäuser, besingt Otello wörtlich die leuchtende Venus. Damit meint er zugleich seine reine, der Elisabeth verwandte Desdemona. Skrupel zwischen himmlischer und irdischer Liebe kennt die lebensfrohe italienische Oper nicht. Dafür den bizarren unruhigen Stolz der Südländer. Keine größere Demütigung des ritterlichen Mannes läßt sich denken, als den tollkühnen Türkenbezwinger um ein albernes Taschentuch flehen zu sehen. Der löwenstarke Seeheld ruft mit Entsetzen in der Stimme: „Il Fazzoletto!?“ Ein schwaches Weib wird ordinär beschimpft und schließlich sinnlos hingemordet.

Alles klang zwar schön, aber auch schön langweilig

Das als große Kunst glaubhaft zu machen, ist in Dresden nicht gelungen. Eine vorbildliche Aufführung allein reicht dazu nicht aus. Das Werk muß sich auf einer artifiziellen Ebene erfüllen. Einem mittleren Stadttheater kann das zuweilen durch das Ausmaß der künstlerischen Überforderung gelingen. Ein erstklassiges Haus, das sich alles leisten kann, muß damit schon zaubern. In Dresden wäre es gewiß möglich gewesen. Ein großes Orchester, ein erstklassiger Dirigent, die beide mit viel Abwesenheit glänzen, dazu eingekaufte Sänger, das sind vielleicht brauchbare Zutaten. Vielleicht aber sollte die Garzeit verlängert werden oder auf Rohstoffe aus kontrolliertem Anbau geachtet werden, vorzugsweise Produkte aus der Region. Aber man will ja weltoffen sein.

Die Inszenierung von Vincent Boussard und das Bühnenbild von Vincent Lemaire boten den Figuren einen dunklen und ruhigen Rahmen. Es wurde von dieser Seite einmal keine Barriere zwischen Orchester und Bühnengeschehen errichtet. Alles klang zwar schön, aber auch ganz schön langweilig. Es war wohl ein Genuß, diese Musik zu hören, aber irgendwie ein schaler Genuß. Seit Jahren macht die Semperoper keine gute Standortpolitik. Beinahe stärker noch als zu DDR-Zeiten ist sie zu einem Exportprodukt für Prestige und Devisen geworden. Hoffen wir, daß sie unter ihrem neuen Intendanten von einer Politik der Werte wieder zurückfindet zu einer der Interessen, die vor allem die Interessen des heimischen Publikums sein sollten. Daß sie wieder groß gemacht wird, wie sie es unter Schuch, Busch, Böhm und Keilberth einst war.

Die nächsten „Otello“-Vorstellungen an der Semperoper Dresden, Theaterplatz 2, finden statt am 13. und 28. Mai, jeweils um 19 Uhr. Kartentelefon: 03 51 / 49 11 705

 www.semperoper.de