© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Verfall der Rechtschreibung am Beispiel Rheinland-Pfalz
Übung macht den Meister
Werner Harasym

In seinem aktuellen Buch „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ betitelt Bildungsexperte Josef Kraus, seit 30 Jahren Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, ein Kapitel mit „Rechtschreibung – Schlechtschreibung“. Kraus geht darin auch auf den „IQB-Bildungstrend 2015“ ein, der im Oktober 2016 veröffentlicht wurde und unter anderem die Orthographie der Neuntkläßler untersuchte. In Rheinland-Pfalz erreichte rund ein Drittel nicht einmal die weichgespülten Regelstandards. Diese Regelstandards bestanden nämlich nicht aus einem anspruchsvollen Diktat, sondern aus einem Lückentext. Um den weiteren Verfall der Rechtschreibleistungen einzudämmen, empfiehlt Kraus: „Üben, üben, üben.“ Eine Reduzierung auf das Ausfüllen von Lückentexten lehnt Kraus ab.

Wie reagieren die rot-grün-gelbe Landesregierung und die bildungspolitische Sprecherin der SPD auf die alarmierende Entwicklung in der Rechtschreibung?

Eine Verschlechterung der Rechtschreibung wird glatt geleugnet. „Valide Anhaltspunkte für allgemein schlechtere Leistungen in Rheinland-Pfalz haben wir nicht“, erklärte Hans Beckmann, Staatssekretär im von der SPD geführten rheinland-pfälzischen Bildungsministerium im März 2017 in einer Sitzung des Bildungsausschusses, nachdem die AfD-Fraktion dort einen Antrag zur „Rechtschreibkompetenz der Schüler in Rheinland-Pfalz“ eingebracht hatte. Die bildungspolitische Sprecherin der SPD, Bettina Brück, sprach von einem Mythos, und sie sei dankbar, daß dieser Mythos – sie meinte damit die Verschlechterung der Leistungen in der Rechtschreibung in Rheinland-Pfalz – von Staatssekretär Beckmann „entmythifiziert“ wurde. Die Quintessenz: alles gut, alles super. So ähnlich argumentierte Brück auch – eifrig unterstützt von den bildungspolitischen Sprecherinnen der FDP und der Grünen – in der Plenarsitzung Ende Januar 2017, als die AfD den Antrag „Grundschule stärken – Rückkehr zum regeltreuen Schreiben“ gestellt hatte.

Im Kern ging es dabei um die vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen inspirierte Methode „Schreiben nach Gehör“ beziehungsweise „Lesen durch Schreiben“, mit der die Kinder unter Zuhilfenahme einer Anlauttabelle das Schreiben lernen sollen und schon nach ein paar Monaten seitenlange Aufsätze schreiben können – jedoch ohne Anspruch auf eine richtige Schreibweise. Laut einem Beitrag von Gymnasiallehrer Rainer Werner mit dem Titel „Rechtschreibung – ‘Di foirwer retete eine oile aus dem Stal’“ in der FAZ vom 6. April 2017 „eine Zumutung fürs Gehirn“, weil es dem Gehirn leichter fällt zu üben, als falsch Gelerntes zu korrigieren.

Reinhard Schwab, Vorsitzender des Pädagogischen Ausschusses des Hessischen Philologenverbandes, kritisiert die „Lesen durch Schreiben“-Methode vehement: „Denn die nachlassenden Rechtschreibleistungen der Schüler sprechen eine klare Sprache … Rechtschreibschwächen werden provoziert. Läßt man in den ersten beiden Grundschuljahren Kinder schreiben, wie sie sprechen, und korrigiert nicht, besteht die Gefahr, daß sie sich im Rahmen dieser Schreibanarchie Wörter falsch einprägen. (…) Kinder sollten von Anfang an die richtige Rechtschreibung lernen und regeltreues Schreiben einüben, die einzelnen Buchstaben sollen systematisch erarbeitet, Rechtschreibstrategien vermittelt werden.“

Auch in Rheinland-Pfalz wird im Anfangsunterricht der Grundschulen das Arbeiten mit der Anlauttabelle praktiziert, wie Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der AfD mitteilte. Eine große Anfrage der CDU im Sommer 2015 hatte ergeben, daß in Rheinland-Pfalz im Schuljahr 2014/15 in der ersten Klassenstufe 946 und in der zweiten Klassenstufe 932 Grundschulen mit „Elementen des lautorientierten Schreibens“ arbeiteten. An 16 der insgesamt 969 Grundschulen komme sogar „zunächst ausschließlich“ die Anlauttabelle zum Einsatz.

Wer behauptet, das Rechtschreibkönnen hätte sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert oder es gäbe keine Anhaltspunkte für Verschlechterung, der verweigert sich der Realität und argumentiert mit ideologischen Scheuklappen.

Legitimiert wird der Einsatz der Anlauttabelle durch den Teilrahmenplan Deutsch für die Grundschulen. Dort heißt es auf Seite 17: „Darüber hinaus ist es wichtig, erste schriftliche Ausdrucksformen zu respektieren und für einen behutsamen Übergang vom lautgetreuen zum normgerechten Schreiben zu sorgen, um die Schreibmotivation aufzubauen und zu erhalten.“

Weil der Bildungsauftrag der Grundschulen in der Vermittlung einer soliden Grundbildung – also Lesen, Schreiben, Rechnen – liegen sollte, forderte die AfD-Fraktion in ihrem Antrag, der rheinland-pfälzische Landtag möge die Landesregierung auffordern, Methoden wie beispielsweise die Anlauttabelle, bei denen Kinder monate- beziehungsweise jahrelang nicht auf die richtige Rechtschreibung achten müssen, nicht mehr zu praktizieren und bei der Neufassung des Teilrahmenplans Deutsch für die Grundschulen zu verankern, daß die Kinder von Anfang an die richtige Rechtschreibung lernen und regeltreues Schreiben einüben. Der Antrag wurde von allen anderen Fraktionen einschließlich der CDU, die kurzfristig einen Alternativantrag eingebracht hatte, abgelehnt.

Wer nun behauptet, die Leistungen in der Rechtschreibung hätten sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert oder es gäbe keine Anhaltspunkte für eine Verschlechterung, der verweigert sich der Realität und argumentiert mit ideologischen Scheuklappen. Die Alltagserfahrungen der Lehrer an den weiterführenden Schulen sind gänzlich andere. Ebenso bei den ausbildenden Betrieben. Diese Erfahrungen haben auch eine wissenschaftliche Grundierung. Wolfgang Steinig wies in einer Langzeitstudie nach, daß sich die Rechtschreibung seit den siebziger Jahren vehement verschlechtert hat.

Bezeichnend eine Passage aus dem bereits erwähnten FAZ-Artikel von Rainer Werner: „Es verblüfft einen immer wieder, wenn man Briefe von Menschen liest, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts zur Schule gegangen sind. Sie schreiben in einem nahezu fehlerfreien Deutsch. Dabei haben sie oft nur die achtklassige ‘Volksschule’ besucht. Ihr korrektes Deutsch haben sie gelernt, weil das Üben der Rechtschreibung mit einer Beharrlichkeit durchgeführt wurde, die ‘schülerzugewandte’ Pädagogen heute als unmenschlichen Drill stigmatisieren. Vermutlich haben frühere Didaktiker mehr von der Beschaffenheit unseres Gehirns gewußt, als wir ihnen aus heutiger Sicht zugestehen wollen. Die physiologische Gehirnforschung plädiert dafür, Merkfähigkeit vor allem durch beständiges Üben zu stärken. Warum sollte man das Drill nennen, was uns das eigene Gehirn als eine erfolgversprechende Lernmethode vorgibt? Es ist an der Zeit, daß sich die Lehrer gegen die unwissenschaftliche Verächtlichmachung des Übens verwahren.“

Fazit: „Üben, üben, üben“ – wie auch Josef Kraus fordert. In Rheinland-Pfalz geht man genau in die entgegengesetzte Richtung. Nach der Diskussion über den AfD-Antrag im Bildungsausschuß reichte die Landesregierung noch eine schriftliche Information nach, die es an Deutlichkeit nicht fehlen ließ. Durch die Schulordnung für die öffentlichen Grundschulen vom 10. Oktober 2008 wurden im Fach Deutsch die Anforderungen nämlich in erheblichem Maße gesenkt. Waren bis dahin noch zehn bis zwölf Diktate pro Jahr für die Dritt- und Viertkläßler vorgeschrieben, sind nun nur noch drei Arbeiten im Bereich „Richtig schreiben“ eingeplant. Das müssen aber keineswegs Diktate sein, es sind auch andere Formate wie Lückentexte zulässig.

Der Lückentext ersetzt immer öfter das Diktat. So auch beim Rechtschreibtest für die Bewerber auf eine Stelle bei der hessischen Polizei. Dort werden über Kopfhörer Sätze mit Leerstellen vorgelesen, insgesamt müssen 60 Begriffe eingesetzt werden. Besonders hoch sind die Anforderungen nicht, es geht dabei um die Unterscheidung zwischen „das“ und „daß“ oder Wörter wie „Dreißigjähriger Krieg“. Trotzdem sind viele Bewerber überfordert, nach Angaben der Hessischen Polizeiakademie fallen 17 Prozent aufgrund sprachlicher Defizite durch.

Ziehen wir nicht im ganzen Bundesgebiet die Notbremse, wird der Verfall der Rechtschreibung bald ein unumkehrbarer Prozeß sein. Sogar Lehramtsstudenten sind von der gravierenden Verschlechterung der Orthographie nicht ausgenommen.

Das verwundert allerdings nicht, wenn man weiß, daß selbst im Musterland Bayern, das im „IQB-Bildungstrend 2015“ im Kompetenzbereich Orthographie mit weitem Abstand auf Platz eins liegt, massive Einbrüche zu verzeichnen sind. Bereits im September 2013 erklärte Max Schmidt, Präsident des Bayerischen Philologenverbandes (bpv), zu den Leistungen in der Rechtschreibung: „Das ist deutlich schlechter geworden.“ Die Mehrheit der Gymnasiallehrer ist der Meinung, daß sich die Einführung der Lehrmethode „Lesen durch Schreiben“ negativ auf die Rechtschreibkenntnisse der Schüler ausgewirkt hat. Das äußerten jedenfalls 60 Prozent in einer bpv-Umfrage vom November 2012, an der 1.100 Gymnasiallehrer teilnahmen. „Das schadet vor allem den Kindern von Migranten und aus bildungsfernen Familien. Kinder aus bildungsnahen Familien werden nicht so sehr benachteiligt, denn da helfen ja die Eltern mit. Die achten darauf, daß ihre Kinder richtig schreiben lernen“, betonte Schmidt.

Eindrucksvoll belegt wird diese Aussage am Beispiel einer verzweifelten Mutter, die auf ihrer Facebook-Seite einen offenen Brief an die Erfinder von „Lesen durch Schreiben“ einstellte und eine überwältigende Resonanz erfuhr. Binnen kurzer Zeit sammelten sich knapp 2.000 Kommentare an. In einem heißt es: „Auch meine Tochter sollte so lernen! Ich hab es aber von Anfang an nicht unterstützt. Hab jeden Tag die Hausaufgaben gemeinsam mit ihr gemacht und die Lernmethode von damals (Fibel) angewandt!! Es war wohl anstrengend und verwirrend dazu. Aber mit gutem Erfolg.“ Das Scheitern dieser Methode kann kaum besser veranschaulicht werden.

Die Verschlechterung der Rechtschreibkenntnisse manifestiert sich allerdings nicht in schlechteren Deutsch­noten. In Rheinland-Pfalz darf in den Klassenstufen sieben bis zehn „bei besonders schwachen Rechtschreib- und Zeichensetzungsleistungen die Note um höchstens eine ganze Notenstufe herabgesetzt werden“. Aus Bayern sind Aufsätze vom Ende der vierten Klasse bekannt, in denen die Rechtschreibung nur mit zwei von insgesamt 28 Punkten bewertet wird. Selbst mit 100 Fehlern und dann 26 von 28 Punkten ist theoretisch eine Eins möglich. In der Praxis kommt es durchaus vor, daß Schüler aufgrund dieses Bewertungssystems mit über 30 Fehlern eine Eins erhalten.

Im Dezember 2016 thematisierte die CDU auf ihrem Bundesparteitag in Essen „Schreiben nach Gehör“ – mit unterschiedlicher Resonanz in den jeweiligen Landtagsfraktionen. Immerhin: In Baden-Württemberg forderte die CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann ihre Grundschulen auf, Methoden, bei denen Kinder lange Zeit nicht auf die richtige Rechtschreibung achten müßten, nicht mehr zu praktizieren. Eltern und Kinder in Baden-Württemberg atmen auf – der Spuk rot-grüner Bildungsexperimente hat zumindest in diesem einen Punkt sein Ende gefunden.

Ziehen wir nicht im ganzen Bundesgebiet die Notbremse, wird der Verfall der Rechtschreibung bald ein unumkehrbarer Prozeß sein. Wohin nämlich dieser permanente Niveauverlust hinführt, läßt eine Studie von Gerhard Wolf, Professor für Geschichte an der Universität Bayreuth, aus dem Jahre 2011 erahnen. Ergebnis: Selbst Lehramtsstudenten sind von der gravierenden Verschlechterung der Rechtschreibung – sowie der Grammatik, Syntax, Interpunktion, Wortschatz und Umgang mit den Tempora – nicht ausgenommen. Deshalb vermutet Wolf, daß „die Hälfte der Lehramtsstudenten eines Tages als Lehrer maximal 50 Prozent der sprachlichen Fehler ihrer Schüler noch erkennen“ können. In Rheinland-Pfalz sieht die Landesregierung allerdings keinen Handlungsbedarf, dort ist alles bestens.






Werner Harasym, Jahrgang 1972, ist freier Journalist und arbeitete unter anderem über 20 Jahre für die Süddeutsche Zeitung. Er studierte von 1994 bis 1999 in München Neuere Geschichte mit Magisterabschluß. Seit September 2016 ist er Referent für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur bei der AfD-Fraktion im Landtag von Rheinland-Pfalz.

Foto: Fehlerübersäter Text eines Grundschulkindes nach der „Schreiben nach Gehör“-Methode: Menschen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die achtklassige Volksschule besuchten, beherrschten eine tadellose Rechtschreibung – weil in der Schule geübt und das Richtige sich einprägen konnte