© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Gesamtpreußisches Kulturbewußtsein
Von Immanuel Kant bis Gerhart Hauptmann: Hans-Christof Kraus und Frank-Lothar Kroll präsentieren Aufsätze zur Literaturgeschichte Preußens
Manfred Hofmann

Schüler, die wie die Globsower Jungens dem alten Stechlin akkurat die Tage der Schlachten von Fehrbellin oder Leipzig zu nennen wüßten („Immer achtzehnter bei uns“ – 18. Juni 1675, 18. Oktober 1813), wären heute wohl eher selten anzutreffen. Schüler, die die Namen Kleist oder Fontane wenigstens schon einmal gehört haben, jedoch noch häufiger. Was darauf deutet, daß Preußens Kultur- und Geistesgeschichte im allgemeinen, die Literaturgeschichte im besonderen, nachhaltiger im kollektiven Gedächtnis haftet als die Daten seiner Haupt- und Staatsaktionen.

Trotzdem säen Hans-Christof Kraus und Frank-Lothar Kroll, die Herausgeber eines Sammelbandes zur Literaturgeschichte Preußens, mit einem Fragezeichen schon im Titel Zweifel: „Literatur in Preußen – preußische Literatur?“  Tatsächlich gab es Literatur in Preußen, solange der preußische Staat existierte. Preußische Literatur hingegen, so stellt Kraus’ instruktive Einleitung klar, nur etwa 150 Jahre. Das leuchtet ein, denn von den Anfängen Brandenburgs und des Ordensstaates, dem späteren Ost- und Westpreußen, bis ins frühe 18. Jahrhundert existierte zwischen Berlin und Königsberg nur regionale Literatur. 

Nach 1900 geht Preußen dann in Deutschland auf

Im „eigentlichen Sinne preußische Literatur“ habe sich erst mit der Entstehung eines gesamtpreußischen Kulturbewußtseins entwickelt, wobei Friedrich der Große als bedeutender Integrationsfaktor gewirkt habe. Ein kulturell grundiertes Zusammengehörigkeitsgefühl artikulierten Schriftsteller und Gelehrte daher erstmals während der „nordostdeutschen Aufklärung“, die mit den Namen Kant, Lessing, Nicolai, Mendelssohn verknüpft ist. Auch die folgende nordostdeutsche Romantik prägten gebürtige Berliner, Ostpreußen, Schlesier. Ebenso wie die dritte und letzte Epoche preußischer Literatur im engeren Sinne – den Naturalismus mit dem Zentrum Berlin, wo Ostpreußen wie Arno Holz und Hermann Sudermann, Schlesier wie Gerhart Hauptmann die sozialen Wirkungen des industriellen Wandels poetisch verarbeiteten. Spätestens nach 1900 gehe Preußen dann in Deutschland auf, preußisches Gesamtbewußtsein schwinde und mit ihm preußische Literatur. 

Gleichwohl ist Preußen im 20. Jahrhundert ein reiches literarisches Nachleben beschieden gewesen, dem sich in diesem anregenden Band Studien zu Rudolf Borchardt sowie zum Preußenbild des George-Kreises und dem der „Inneren Emigranten“ Jochen Klepper und Reinhold Schneider widmen. 

Hans-Christof Kraus, Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Literatur in Preußen – preußische Literatur? Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2016, gebunden, 216 Seiten, 59,90 Euro