© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/17 / 19. Mai 2017

Knapp daneben
Grundfesten der Klassengesellschaft
Karl Heinzen

London ist eine teure Stadt. Der große Zuspruch des Publikums  für die Tate Gallery of Modern Art hat daher eine triviale Erklärung. Die Besucher interessieren sich gar nicht so sehr für die Werke, die in ihr zur Schau gestellt werden. Sie freuen sich einfach, daß der Eintritt kostenlos ist. Seitdem im vergangenen Jahr ein spektakulärer Anbau eröffnet wurde, hat das Museum an Attraktivität noch weiter zugelegt. Die Erweiterung erlaubt es, die Kunst Kunst sein zu lassen und bloß in den zehnten Stock hochzufahren, um die faszinierende Aussicht zu genießen, die sich von der neuen Dachterrasse bietet. Von hier aus richtet sich der Blick aber nicht allein auf das Stadtpanorama. Man kann auch recht gut erkennen, was die Bewohner der Luxusappartements im Gebäude gegenüber so treiben. Viele Schnappschüsse aus ihrem Privatleben haben so in sozialen Netzwerken die Runde gemacht.

Man muß verhindern, daß die Armen den Eindruck gewinnen, die Reichen wären auch bloß Menschen.

Von der großen Aufmerksamkeit, die man ihrem Alltag schenkt, sind die Angehörigen der Upperclass von gegenüber aber wenig erbaut. Einige von ihnen versuchen sogar, vor Gericht die Tate Modern dazu zu zwingen, eine Sichtschutzwand zu errichten. In dem Prozeß geht es jedoch um mehr als Persönlichkeitsrechte. Sein Ausgang wird zeigen, wie intakt die britische Klassengesellschaft noch ist. Zu ihren Voraussetzungen zählt, daß die Reichen den Pöbel auf Abstand halten können. Unter sich zu bleiben und den Verkehr mit den Unterschichten darauf zu beschränken, sich von ihnen bedienen zu lassen, ist aber nicht nur ein Gebot des guten Geschmacks. Man muß verhindern, daß die Armen den Eindruck gewinnen, die Reichen wären letztlich auch bloß Menschen wie alle anderen.

Genau dieser Eindruck drängt sich aber den Gaffern auf der Dachterrasse der Tate Modern auf. Sie sehen Menschen, die sich zwar teurer einrichten und anziehen können, ansonsten aber das tun, was alle tun: essen, trinken, gammeln, fernsehen, sich streiten, aufs Klo gehen, sich lieben, schlafen. Was, wenn sie aus diesen Einblicken plötzlich die fatale Forderung ableiten, daß Gleiche auch gleichen Anspruch auf Wohlstand haben?