© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

„Die Balkanisierung der Gesellschaft“
Mit seiner Kritik an der Masseneinwanderung und der politischen Linken löste er in Großbritannien eine Debatte aus. Dabei galt der Autor David Goodhart bis dahin selbst als Linksintellektueller
Moritz Schwarz

Herr Goodhart, Ihr Buch hat 2013 in Großbritannien eine Kontroverse ausgelöst. Warum?

David Goodhart: Weil ich politisch als von der linksliberalen Seite kommend gelte. Letztlich war eher das der Grund als der Inhalt meines Buches. Denn dessen Grundgedanken hatte ich schon in einem Zeitungsartikel mit dem Titel „Zu vielfältig?“ skizziert, der bereits 2004 im Guardian erschienen war.

Darin ging es um die beiden zentralen Prinzipien der Linken.

Goodhart: Genau, das alte Prinzip der Linken – die Solidarität – und das neue Prinzip der Diversität, also der Vielfalt. Das Problem ist, daß die meisten Linken sich nicht eingestehen, daß beide in einem Spannungsverhältnis stehen.

Inwiefern? 

Goodhart: Wer aufmerksam beobachtet, stellt fest, daß Menschen sich in puncto Solidarität dann leichter tun, wenn es um andere Menschen geht, mit denen sie etwas gemeinsam haben. Das aber widerspricht den Vorstellungen der individualistischen, progressiven Linken, für die dieser Umstand ein Anathema ist. 

Sie meinen ein Tabu? 

Goodhart: Ja, der Punkt ist, daß es auf der Linken sehr lange als problematisch galt, bestimmte Fragen zu stellen, selbst wenn sie von grundlegender Wichtigkeit waren, wie etwa die Kontrolle der Einwanderung. Denn so etwas galt als „rechts“. Und so wurde auch ich als eine Art freundlich auftretender, verkappter Rassist betrachtet; etwa von dem in Großbritannien bekannten karibischstämmigen Aktivisten und Autor Trevor Phillips.

Aber Phillips hat Ihr Buch mit den Worten gelobt: „Niemand, der intelligent ist, kann es sich leisten, es nicht zu lesen.“

Goodhart: Inzwischen ist mir Trevor auch ein guter Freund geworden, und er hat seine Ansichten etwa über den Multikulturalismus in Teilen korrigiert. Seit 2004 hat sich die Debatte in Großbritannien überhaupt verändert. Heute wird auch auf der Linken eingesehen, daß  Einwanderung nicht unkontrolliert ablaufen kann. 

Betrachten Sie die linke Kritik an Ihnen als legitim oder als Realitätsverweigerung und Einschränkung der Meinungsfreiheit? 

Goodhart: Ich will fair sein, bei all der  scharfen Kritik mir gegenüber hat kaum jemand verlangt, es solle mir verboten werden, meine Fragen öffentlich zu äußern. Allerdings kam mir die Kritik dennoch fast „religiös“ motiviert vor. Denn meine Positionen wurden weniger sachlich kritisiert als vielmehr moralisch. Sie galten nicht als falsch, weil sie etwa den Fakten widersprochen hätten – sondern angeblich der Ethik. 

Worin genau besteht der Widerspruch zwischen Solidarität und Vielfalt?

Goodhart: Es ist letztlich der europäischen Sozialdemokratie zu verdanken, daß unsere Gesellschaften einen so hohen Umverteilungsgrad entwickelt haben – in Gestalt der nationalstaatlichen Demokratie und des nationalstaatlichen Sozialstaates. Nun soll dieses Konzept aber über die Ebene des Nationalstaates hinaus fortentwickelt werden. Dieser Ansatz läßt jedoch außer acht, daß die Menschen, wie gesagt, viel eher dazu bereit sind, mit jenen zu teilen, mit denen sie etwas verbindet. Das muß nicht Rasse, Volk oder Nation sein, es kann sich auch um andere Gemeinsamkeiten handeln. Wie auch immer, jedenfalls nimmt daher ein Sozialstaat wie Dänemark eine für Linke befremdliche Entwicklung, weil er sich relativ stark national abschottet. Schweden etwa wäre dazu das Gegenmodell. Allerdings, wenn meine Analysen stimmen, dann wird Schweden bei Fortsetzung seiner Politik seinen hochentwickelten Sozialstaat irgendwann nicht mehr aufrechterhalten können und ihn vermutlich etwa auf ein Maß, wie wir es aus den USA kennen, reduzieren müssen. Also: Die linke Forderung nach globaler Solidarität entspricht weder unserer sozialen Kapazität noch der menschlichen Psychologie. Ja, ich glaube, daß diese überzogene Forderung sogar dazu führt, daß Menschen weniger generös sind, als sie es sonst eventuell wären. Denn diese maßlose Forderung setzt sie unter Druck und führt zu einer Abwehrreaktion. 

Aber ist es nicht die Aufgabe der Linken, die Menschen dazu zu erziehen, die exklusive Bindung an ihre Gruppe zu überwinden und Bewußtsein für globale Solidarität zu entwickeln und damit unseren Zivilisationsgrad weiter zu steigern? 

Goodhart: Ich widerspreche Ihnen, denn so funktioniert Demokratie nicht. Wissen Sie, nach dem Brexit sagten einige meiner linken Freunde, wir sollten den Leuten vielleicht besser verbieten zu wählen. Schließlich zeige sich nun, daß sie nicht verstünden, um was es geht und für was sie tatsächlich gestimmt haben. Das aber – so muß ich leider sagen – ist krasser Gruppenegoismus, denn dahinter steht der Anspruch: Nur wir verstehen die Welt! Ein Problem vieler Linker ist zudem, daß sie nicht differenzieren auf der einen Seite zwischen Menschen, die nichts gegen Fremde haben, aber eine stärkere Bindung an die Menschen ihrer eigenen Art fühlen – wie auch immer sich diese definiert – und Menschen, die tatsächlich fremdenfeindlich sind. Diese Blindheit ist mindestens naiv, wenn nicht grob falsch. Das gleiche gilt für den Nationalismus. In den Augen der Linken ist dieser per se schlecht. Moderater Nationalismus aber ist nicht etwa der Anfang eines Übels, sondern eine positive Kraft – etwa gegenüber einem ungehinderten Individualismus –, der unsere Gesellschaften viel zu verdanken haben. Denn moderater Nationalismus stellt ein Bindemittel für unsere Gesellschaften dar, weil er eine Verbindung aufbaut zwischen uns und unseren Mitbürgern und Landsleuten, was wiederum in Institutionen wie unserem Steuersystem, Sozialstaat, Gesundheitssystem oder unserer Demokratie ihren Ausdruck findet. Warum, frage ich Sie, gibt jeder von uns so viel mehr Geld für all diese Institutionen aus, als für Entwicklungshilfe in der Dritten Welt? Die Antwort ist: moderater Nationalismus! Übrigens, hätte die Linke recht und wir würden tatsächlich alle Menschen auf der Welt als uns ebenso nahestehend betrachten wie unsere Landsleute, dann wären bereits unsere Sozialstaaten an sich, ebenso wie unsere teuere öffentliche Infrastruktur, ein moralischer Skandal. 

Ist es nicht egoistisch, sich einer globalen Solidarität zu verweigern?

Goodhart: Wissen Sie, ich bin skeptisch: Ich glaube, daß viele Linke das Argument der sozialen Gerechtigkeit vor allem benutzt haben, um in der Auseinandersetzung mit der ihnen verhaßten Elterngeneration dieser eins überzubraten: um deren Werte bezüglich Volk, Nation, Klasse, Familie, Religion, Geschlechterordnung etc. zu diskreditieren. Und sie haben das leider in einer sehr unreflektierten Art und Weise getan. Und ich meine, daß es nicht richtig ist, wenn Linke die einfachen Leute mit ihrer lokalen Bindung und ihrem Bestreben, diese zu erhalten und zu schützen als amoralisch darstellen. Denn auch diese Leute stimmen meist zu, daß wir echten politisch Verfolgten Schutz gewähren sollten, daß wir einen Teil unseres Reichtums an arme Länder in Form von Entwicklungshilfe abgeben und daß wir internationale Institutionen schaffen, deren Aufgabe es ist, für gerechtere Verhältnisse zu sorgen und arme Länder wohlhabend zu machen. Bitte bedenken Sie, daß es vor gerade mal hundert Jahren noch üblich war, daß reiche Länder arme Länder einfach überfallen und ausgeplündert haben. Heute dagegen versuchen die Reichen, die Armen ebenfalls reich zu machen – und das nicht selten mit mehr Ernsthaftigkeit als deren eigene Eliten. 

Dennoch, ist das Bestreben, sich Einwanderer vom Hals halten zu wollen, nicht rassistisch? 

Goodhart: Wissen Sie, wenn in Ihrer Straße ein Geschäft und ein Lokal nach dem anderen schließt und dafür ganz andere eröffnen, wenn vielleicht plötzlich eine Moschee das Straßenbild beherrscht und mehr und mehr die Regeln der neu Zugezogenen gelten – nun, ich glaube, daß das Unbehagen daran in der Natur des Menschen liegt. Das aber will die progressive Linke nicht anerkennen. Für sie ist das alles bereits Xenophobie, wenn nicht, wie Sie sagen, „Rassismus“. Übrigens werden diese Begriffe dadurch entwertet: dann nämlich, wenn Rassismus nicht mehr nur für Rassismus steht, sondern ebenso für das bloße Gefühl des Heimatverlusts.         

Warum, glauben Sie, versteht die Linke dies nicht?

Goodhart: Ich glaube, der Lebensstil der progressiven Linken führt zu einer bestimmten Weltsicht. Diese Leute sind meist gut gebildet, mobil, einige von ihnen haben im Ausland studiert oder gearbeitet, sie sind urban, individualistisch und haben eine Identität, die auf dem aufbaut, was sie erreicht haben. Sprich, sie haben durch Bildung und Leistung eine soziale Stellung erreicht, mit der sie Teil einer Gesellschaft von Leistungsträgern werden, deren Werte und Normen dann ihre Identität bestimmen. Die meisten einfachen Bürger dagegen, die keinen vergleichbaren Aufstieg zu bewerkstelligen vermögen, sondern gerade mal ihren Lebensunterhalt verdienen, übernehmen einfach die Identität der Gruppe, der sie nun mal angehören: Sie sind Männer oder Frauen, Arbeiter, Briten oder was sonst auch immer. Für sie zählt diese Bindung viel mehr als ihr individueller sozialer Status, der eben bestenfalls durchschnittlich ist. Und daher ist ihre Identität meist lokal gebunden, bezieht sich also auf eine Gruppe vor Ort, während die Identität der sozialen Elite mobil ist. Diese mobile Identität läßt problemlos einen Umzug nach New York, Berlin oder Singapur zu, denn für sie läßt es sich dort ebenso leben wie etwa in London. 

Das ist der Grund, warum die Linke die einfachen Bürger nicht mehr versteht? 

Goodhart: Ja, verändert sich etwa ein Stadtviertel durch Einwanderung, so ist das für lokal gebundene Menschen ein Heimatverlust, für die Elite dagegen irrelevant, eben weil ihre Identität keine Bindung zu der Gegend beinhaltet. Ich sagte schon, traditionell ist der zentrale Wert der Linken die Solidarität. Solidarität aber bedarf der Stabilität, also der Bindung, der Heimat. Dann kamen die sechziger Jahre und die Linke driftete weg von der Stabilität. Plötzlich ging es ihr um andere Gruppen, um Minderheiten, um neue soziale Bewegungen. Tatsächlich wurde damit die Linke oftmals zum Feind der Klasse, deren Vertreter sie vormals gewesen war. Und so verlor die Linke viel an Unterstützung. Viele kleine Leute wechseln inzwischen enttäuscht zu den populistischen Bewegungen, die versprechen, sich nun für ihre Interessen einzusetzen. Gleichzeitig wechseln viele der Gebildeteren von der klassischen Linken zu progressiven linksliberalen Parteien, wie etwa den Grünen. So verliert die Linke in zwei Richtungen. 

Ihr Buch heißt „Der britische Traum“. Hat dieser sich in einen Alptraum verwandelt?

Goodhart: So weit würde ich nicht gehen. Ich habe den Titel in Anlehnung an den sogenannten amerikanischen Traum gewählt. Dieser besagt ja, jeder Arme und Beladene könne in die USA auswandern und dort versuchen, sein Glück zu machen. Ich wollte ausdrücken, daß sich in der progressiven Linken ein ähnliches Verständnis von Großbritannien als Einwanderungsland entwickelt hat. Nun, es ist nicht zu einem Alptraum geworden, aber es ist auch nicht die Erfolgsgeschichte, als die man es oft darzustellen versucht. Fakt ist, daß einige Teile unseres Landes heute quasi von einer anderen Kultur besiedelt sind. Mein Buch zeigt auf, als wie destruktiv sich dadurch unsere Einwanderungsgesellschaft auf lange Sicht erweisen könnte. Es droht eine Balkanisierung der Gesellschaft, der Rückbau des Sozialstaats, der Verfall der Demokratie. Wenn in immer mehr Landesteilen das Gefühl für das Britischsein – oder bei Ihnen für das Deutschsein – immer schwächer wird, also die Staatsbürgerlichkeit mehr und mehr schwindet, dann droht das Gemeinwesen zu zerfallen. Das passiert nicht plötzlich, aber nach und nach. Und eines Tages könnten wir aufwachen und unsere alte Bürgergesellschaft ist weg – die Grundlage für unsere Demokratie und unseren Wohlfahrtsstaat. 

Was raten Sie Deutschland angesichts seiner „Refugees welcome“-Politik?

Goodhart: Deutschland hat in einer wahrlich großzügigen, aber politisch falschen Geste sehr viele Einwanderer aufgenommen. Ich fürchte, das wird sich noch als ein schwerer Fehler erweisen. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, armen Ländern oder Flüchtlingen in Kriegsgebieten zu helfen. Darunter ist allerdings die Aufforderung, zu uns nach Europa zu kommen, möglicherweise eine der schlechtesten. Denn sie schädigt uns, und sie schädigt die armen Länder, die so den produktivsten Teil ihrer Gesellschaft verlieren. Und es bedeutet überdies die Förderung einer darwinistischen Politik, denn die Spielregeln lauten dann ja: Wer jung und fit ist und Geld für die Flucht hat, kann kommen. Wer alt, schwach und arm ist, muß bleiben oder unterwegs sterben. 

Aber warum sollten wir in Europa, das etwa 500 Millionen Einwohner hat, nicht Platz für ein paar Millionen Einwanderer zusätzlich haben? 

Goodhart: Sie übersehen, daß aus „ein paar Millionen“ schnell viele Millionen werden können. Schauen Sie in die USA, wo der Zustrom illegaler Einwanderer via Mexiko einst als Rinnsal begonnen hat und heute eine Flut ist. Wenn das so weitergeht, dann werden in zwanzig Jahren ein Drittel der Einwohner der USA Hispanics sein. Zudem verteilen sich die Einwanderer ja keineswegs gleichmäßig über ganz Europa, sondern sie strömen in die reiche nordwestliche und mitteleuropäische Zone und dort wiederum in die Ballungszentren. Das heißt, Ihre Gegenüberstellung 500 Millionen hier, ein paar Millionen dort täuscht. Tatsächlich lassen sich die meisten Einwanderer in einem Raum nieder, der eine viel, viel geringere Bevölkerungszahl hat. Und schließlich: Wir haben ja sowieso schon eine reguläre Einwanderung. In Großbritannien etwa waren das im letzten Jahr um die 630.000 Personen. Das ist keine triviale Zahl, auch wenn etliche dieser Einwanderer nur einige Zeit hierbleiben, um zu arbeiten. Aber kommen zu dieser Zahl noch solche Mengen an Flüchtlingen hinzu, braucht man sich in Europa über die politischen Reaktionen darauf wirklich nicht mehr zu wundern. 






David Goodhart, der angesehene britische Publizist ist Leiter des „Instituts für Demographie, Einwanderung und Integration“ der britischen Denkfabrik Policy Exchange in London. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent der Financial Times, arbeitete für die BBC, schrieb Beiträge für den Independent, Guardian und die Times. Goodhart war zunächst Direktor der Denkfabrik Demos und gründete die Monatszeitschrift Prospect, für die Autoren wie der ehemalige Premierminister Gordon Brown und Historiker wie Timothy Garton Ash, Francis Fukuyama oder John Keegan schreiben. Für Aufmerksamkeit sorgte 2013 sein preisgekröntes Buch „The British Dream. Successes and Failures of Post-war Immigration“ (Der britische Traum. Erfolge und Fehler der Einwanderung in der Nachkriegszeit). Geboren wurde David Goodhart 1956 in London.

Foto: Publizist Goodhart: „Wenn das Gefühl des Britischseins, bei Ihnen des Deutschseins, immer schwächer wird, also die Staatsbürgerlichkeit schwindet, droht das Gemeinwesen zu zerfallen“

 

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