© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Ein zuverlässiger V-Mann
Exklusiv: Besuch bei Tino Brandt, dem Organisator des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch die mutmaßlichen NSU-Mörder aktiv waren
Martina Meckelein

Besucherraum im Erdgeschoß der JVA Tonna bei Erfurt: Weiße Wände, ein quadratischer Tisch, vier Stühle, ein Oberlicht. Auf dem Tisch ein kleiner Topf mit künstlichen Blumen. Jeanshemd und Hose, weißes T-Shirt. Gut sieht er aus, fast erholt. „Danke“, sagt Tino Brandt, „ich habe abgenommen“, und lächelt geschmeichelt. „40 Kilo. Ich esse hier keine weißen Brötchen.“

Wochen zog sich die Genehmigung für das Interview hin. Das Thüringer Justizministerium wollte kein Gespräch zwischen der JUNGEN FREIHEIT und Tino Brandt. Erst der Hinweis, daß eine Fernsehproduktion ein Jahr zuvor durchaus den bekannten Thüringer Häftling interviewen durfte, ließ die Ministerialen unter der Regierung Bodo Ramelows umdenken. „Wir reden nur über Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe“, lautete unsere Zusicherung, denn Fragen zu den aktuellen Haftgründen wünscht die Gefängnisleitung nicht. Brandt sitzt eine Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren wegen Kindesmißbrauchs ab.

Dann sagt er unvermittelt: „Wenn ich die Anstalt verlasse, zu Aussagen zum Beispiel, muß ich laut Gericht Doppelfesselung tragen, weil ich Neonazi-Funktionär gewesen sei.“

Als V-Mann organisiert und vernetzt Brandt die Szene

So etwa wenn er als Zeuge von Tonna nach München zum NSU-Prozeß gefahren wird. Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München verhandelt seit dem 6. Mai 2013 gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte wegen Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, schwerer Brandstiftung und Mittäterschaft in zehn Mordfällen. Zschäpe war gemeinsam mit den beiden am 4. November 2011 erschossen aufgefundenen Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 1998 in den Untergrund gegangen. Von Zwickau und Chemnitz aus sollen sie unerkannt bis 2011 als rechtsterroristische Vereinigung über 30 Verbrechen begangen haben. An keinem der Tatorte wurden jedoch ihre Fingerabdrücke und DNS-Spuren gesichert. Ermittlungsakten verschwanden. Parlamentarier versuchen, den Fall politisch aufzuklären.

Zwischenbilanz nach vier Jahren: Die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) scheint bisher nur eines zu sein: unbewiesen. Der Einfluß des Verfassungsschutzes auf die rechtsradikale Szene hingegen ist bewiesen. Zurück zu den Wurzeln. Wie fing das an mit Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe? Einer, der dazu etwas sagen kann, ist Tino Brandt.

Er war bis 2001 einer der Macher in der rechtsextremistischen Szene im Freistaat. Er baute sie auf, war Chef des Thüringer Heimatschutzes, Vize der Thüringer NPD. Er rekrutierte Mitglieder, bezahlte Bus- und Zugfahrkarten zu Demonstrationen. Das Geld kam vom Thüringer Verfassungsschutz, sagt Brandt. Er arbeitete für das Landesamt unter dem Tarnnamen Otto, später Oskar. Er behauptet, 200.000 Mark im Laufe der Jahre für seine Arbeit bekommen zu haben und das Geld sofort wieder in den Aufbau der Neonazi-Szene gesteckt zu haben. Helmut Roewer, der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes von 1994 bis 2000, sagte dagegen in einem TV-Interview: „Da braucht man ganz andere Summen. Jedenfalls ist mir das nicht bekannt, daß das in meiner Ägide irgendwo gemacht worden ist. Das bestreite ich.“

Wie wird ein Mensch eigentlich Spitzel des Verfassungsschutzes? „Das war 1994, aber eigentlich müssen wir da früher anfangen“, sagt Brandt. Der Junge aus Rudolstadt beginnt 1991 eine Lehre als Kaufmann im Einzelhandel in Regensburg. „Da gab es einen NPD-Stammtisch. Getroffen haben wir uns in zwei Jahren vielleicht zwölfmal.“ Das kriegt die Regensburger Antifa spitz. „Die haben gegen mich demonstriert“, sagt Brandt. „‘Hier bedient sie Tino Brandt – ein faschistischer Krimineller’, riefen sie“, erinnert er sich noch heute. Brandt verliert die Lehrstelle, kehrt 1993 zurück nach Rudolstadt, baut Kontakt zu rechtsextremen Gruppen auf. „Die haben wir einfach angeschrieben und bekamen dann Flugblätter und Aufkleber, die wir verteilten.“

Brandt stellt auch Kontakt zur Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) der beiden führenden Neonazis Michael Kühnen und Christian Worch mit Sitz in Cronach her. „Über die GdNF entstand der Kontakt zu Kai Dalek, der von Christian Worch den Auftrag bekommen hatte, sich um Thüringen zu kümmern. Wir ließen uns da aber nicht in die Struktur eingliedern.“ Dalek sei schon damals ein Spitzel des bayerischen Verfassungsschutzes gewesen. „Der war in Berlin eingesetzt worden, um die Linken zu unterwandern, was ich aber zu dem Zeitpunkt nicht gewußt habe.“

„LfV kaufte Pogromly-Spiele für 100 Mark das Stück“

Brandts politische Arbeit? „Ich habe Konzerte angemeldet“, erzählt er – nicht ohne Stolz. „Vorm Ordnungsamt gab ich rechte Konzerte als linke aus. Weil die Linken immer spielen durften, die Rechten aber Auftrittsverbote bekamen. Zur Tarnung habe ich den Musikgruppen englische Namen gegeben. Da wurde dann aus Bollwerk eben Crash.“

Nach solch einem Konzert, 1994, gibt Brandt der Lokalpresse ein Interview. „Ich habe denen gesagt, daß wir Rechten wegwollen von der Gewalt und hin zur Politik. Zwei Wochen später haben mich zwei Herren auf der Straße in der Nähe der Polizei  in Rudolstadt angesprochen. Sie kämen vom Innenministerium und würden unterstützen, was ich da in der Zeitung gesagt habe.“

Nach dem „Anquatschversuch“ ruft Brandt sofort Dalek aus einer Telefonzelle an. „‘Gut, daß du das weitergemeldet hast’, sagte er mir. ‘Aber das Gespräch scheint ja unproblematisch gewesen zu sein.’“

Brandt trifft sich nun öfter mit den Herren. „Die stellten Allerweltsfragen. Zum Beispiel, wieviel Gäste auf den Konzerten waren. Dafür gab es 150 bis 200 Mark.“

Warum sie ihn damals angesprochen hatten? „Keine Ahnung, aber klar, ich fühlte mich total wichtig.“ Brandt scheint für den Verfassungsschutz immer interessanter zu werden. „Die fragten nach Worch, nach Lageeinschätzungen, nach Zahlen, mit wie vielen Gästen auf Konzerten zu rechnen sei. Und wenn ich sagte, da fahren 600 Leute zur Wehrmachtsausstellung, dann fuhren da auch 600 Leute hin.“

Brandt erweist sich als zuverlässiger Informant. Einer, dessen Karriere zu fördern sich für den Verfassungsschutz zu lohnen scheint. „Die brachten dann Antifa-Zeitungen mit zum Lesen. Ich wurde daraufhin Anti-Antifa-Koordinator.  Die Verfassungsschützer halfen mir bei meiner politischen Arbeit.“

Alle zwei Wochen traf sich Brandt mit Gesinnungsgenossen. Und er, Brandt, sei auch auf den Namen der Gruppe gekommen: THS – Thüringer Heimatschutz. „Das Kind mußte ja schließlich einen Namen bekommen.“ Wie er denn ausgerechnet darauf gekommen sei? „Na, das ist doch alles positiv besetzt. Thüringen – unsere Heimat, die beschützt wird.“

In der ganzen Zeit soll der Verfassungsschutz sich in die Bildung und Gründung des THS nicht eingemischt haben – sagt Brandt. „Die waren froh, wenn die Material  und Aufkleber als erste bekommen haben. Da gab es eine Prämie, um die 100 Mark. Dabei war das ja nun kein Kunststück für mich. Ich arbeitete schließlich in dem Verlag Nation Europa, in dem die Sachen gedruckt wurden“, erzählt er und verbeißt sich kaum ein glucksendes Lachen.

Brandt muß sich immer sicherer, aber auch wichtiger vorgekommen sein. Mit seinen Kameraden telefoniert er im Beisein der Verfassungsschützer, von denen er nur die Vornamen kennen will. „Noch während der konspirativen Gespräche  habe ich am Handy alles organisiert. Ich hatte zu den Rudolf-Heß-Wochen Handyrechnungen über 1.000 bis 2.000 Mark.“ Die Rechnungen zahlte das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV), so Brandt. Zudem gab es allgemeines Geld während der Treffen. Dann die Unkosten, wie Fahrt- und Telefonkosten und die Zahlungen für Reisen zu bundesweiten Demos. „Und Prämien, wenn ich in Gewahrsam saß, als Schadensersatz sozusagen.“

Was für ein Machtgefühl muß das für junge Menschen um die 20 Jahre gewesen sein – Brandt ist Jahrgang 1975, Uwe Mundlos ’73, Uwe Böhnhardt ’77, Ralf Wohlleben ’75?

Noch bevor Brandt Spitzel des Landesamtes wurde, lernte er Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe kennen. „Zu den ersten beiden Konzerten in Dörfern bei Rudolstadt 1993 kamen die als Gäste. Erst die Jungs, später auch die Beate. Mundlos war mir persönlich näher. Böhnhardt wirkte aggressiv, war ein Scheitelträger. Wir trafen uns alle zum Mittwochsstammtisch im ‘Goldenen Löwen’, später in Heilsberg in unserer eigenen Gaststätte. Die Leute kamen auch aus Sonneberg und Coburg. Der Dalek gab Rechtsschulungen und Schulungen über Politik, Geschichte und Germanentum. Getrunken haben wir da und Karten gespielt. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bastelten Pogromly-Spiele“ – ein abartiger Monopoly-Abklatsch. Ein anderer Hauptakteur des THS, der mittlerweile mehrfach vorbestrafte Neonazi André Kapke, übergab Brandt die fertiggestellten Spiele, und der habe sie dann in Coburg und später ans LfV verkauft – „100 DM pro Spiel“, sagt Brandt. „Ich glaube, das LfV kaufte vier Stück.“

Bei diesen Treffen wurden Aktionen geplant. „Wir wollten Aufsehen erregen. Für uns war alles, was über uns in der Presse stand, ein Erfolg. Die Artikel gingen dann herum, darauf waren wir stolz.“ Hier fanden auch die THS-Führungstreffen statt. „Ich war zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, Propagandamittel besorgen durch meinen Job in Nation Europa. Der Kapke, der war für Jena beim THS. Sven Rosemann war zuständig für die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, und Mario Ralf Böhme war später der Kassenwart.“

„Hier ist eine Haussuchung, die drei sind weg“

Was denn eine Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner sei? Brandt lächelt und schweigt. Irgendwann in der Zeit habe „sich Jena langsam für den THS geöffnet“, sagt Brandt. „Mundlos hatte das unterstützt.“ Nun meldete der THS bundesweit Demonstrationen an. „Wenn wir mal keine Anmeldung machen konnten, dann haben die Republikaner oder die NPD für uns angemeldet.“ Warum? „Weil uns generell Demonstrationsanmeldungen verboten worden sind. Wir waren keine Partei.“

1996, im April, baumelt an der Autobahnbrücke bei Jena eine Stoffpuppe mit Davidstern, daneben eine Sprengstoffkoffer-Attrappe. Uwe Böhnhardt wird vom Amtsgericht Jena zu dreieinhalb Jahren, später vom Landgericht Gera zu zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Brandt glaubt die Geschichte nicht. „Weil da niemand drüber geprahlt hat. Das war total szeneuntypisch! Egal wo was stand, in welcher Zeitung, das hätten wir zu den Treffen mitgebracht. Die Artikel gingen herum, da wären wir doch stolz drauf gewesen.“ Böhnhardt tauchte 1998 gemeinsam mit Zschäpe und Mundlos ab, bevor er die Strafe antreten sollte.

Tino Brandt erfuhr übers Telefon vom Abtauchen der drei. „Da kam ein Anruf von Kapke“, sagt Brandt. „‘Hier ist eine Hausdurchsuchung, die beiden Uwes und Beate sind weg’, sagte er. ‘Wie, weg?’ fragte ich. Und Kapke sagte nur: ‘Sie sind weg.’“





NSU: Die Angeklagten

Hauptangeklagte ist Beate Zschäpe (42). Sie soll mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt (am 4. November 2011 in Eisenach-Stregda in einem Wohnmobil erschossen aufgefunden) die rechtsterroristische Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gebildet haben. Darüber hinaus wird ihr Mittäterschaft in zehn Mordfällen und besonders schwere Brandstiftung vorgeworfen.

Zschäpe bestreitet eine Beteiligung an den Morden und eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Vor dem Münchner Oberlandesgericht hat sie gestanden, die letzte gemeinsame Wohnung der drei in Zwickau in Brand gesetzt zu haben.

Mitangeklagt sind Ralf Wohlleben (42), Carsten Schultze (37), André Eminger (38) und Holger Gerlach (43). Wohlleben und Schultze sind wegen Beihilfe zu neunfachem Mord und Beschaffung einer Tatwaffe angeklagt.

Wohlleben sagte aus, keine Waffe besorgt zu haben. Schultze will schon 2000 aus der rechten Szene ausgestiegen sein. Eminger ist wegen Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag, Raub und Unterstützung einer Terrororganisation in zwei Fällen angeklagt. Gerlach wird Unterstützung einer Terrororganisation in drei Fällen vorgeworfen. Er gestand, den drei Untergetauchten falsche Papier besorgt zu haben. Zschäpe und Wohlleben sitzen seit dem 8. November bzw. dem 29. November 2011 in Untersuchungshaft.





NSU: Die Verbrechen

Zehn Morde, 14 Banküberfälle, ein Raubüberfall, drei Sprengstoffattentate soll der „NSU“ nach seinem Abtauchen bis zur Enttarnung verübt haben. Die Mordopfer sind eine deutsche Polizistin und neun Kleinhändler mit türkischen und griechischen Wurzeln. Wegen verunreinigter Wattestäbchen der Kriminaltechnik sucht die Polizei jahrelang nach einem Phantom. Die Mordserie beginnt am 9. September 2000 in Nürnberg: Blumenhändler Enver Simsek (38) wird durch Kugeln aus zwei Waffen (davon eine Ceská 83) getötet. Am 6. April 2006 stirbt in Kassel Halit Yozgat (21) in seinem Internetcafé. Verfassungsschützer Andreas T., zur Tatzeit im Café, will weder Schüsse noch beim Bezahlen den sterbenden Mann hinter dem Tresen bemerkt haben. Am 25. April 2007 wird in Heilbronn im Streifenwagen die Polizistin Michèle Kiesewetter (22) erschossen, ihr Kollege lebensgefährlich verletzt. Ihre Waffen werden 2011 im Wohnmobil in Eisenach gefunden. Am 9. Juni 2004 erschüttert ein Sprengstoffanschlag die Keupstraße in Köln mit 22 zum Teil lebensgefährlich Verletzten.?Die Überfallserie beginnt am 18. Dezember 1998 in einem Edeka-Markt in Chemnitz. Am 5. Oktober 2006 Überfall auf eine Sparkasse in Zwickau: Ein Bank-Azubi erleidet einen Bauchschuß. Den letzten Überfall sollen Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 in Eisenach auf eine Sparkasse verübt haben. Beute insgesamt: 670.000 Euro.