© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Die Leuchtkraft des Sterns erlischt
Migration: Warum die Anwürfe der „FAZ“ gegen den Historiker Rolf Peter Sieferle perfide sind
Thorsten Hinz

Im Dezember 2015 veröffentlichte die Vierteljahreszeitschrift Tumult den Essay „Deutschland, Schlaraffenland. Auf dem Weg in die multitribale Gesellschaft“ von Rolf Peter Sieferle. Der Heidelberger Historiker und Kulturphilosoph erinnerte daran, daß der Sozial- und Rechtsstaat das Ergebnis eines „unwahrscheinlichen, von vielen Kontingenzen geprägten Prozesses“ sei und auf einem fragilen Fundament beruhe. Der ungebremste Ansturm aus der Dritten Welt führe zur Erosion seiner „institutionellen und mental-kulturellen Voraussetzungen“. Seine Schlußfolgerung lautete: „Ein Ausbau des Sozialstaats bei gleichzeitiger Öffnung der Grenzen für Immigranten ist, als drehe man die Heizung auf und öffnet gleichzeitig die Fenster. Eine Gesellschaft, die nicht mehr fähig ist zur Unterscheidung zwischen sich selbst und sie auflösenden Kräften, lebt moralisch über ihre Verhältnisse und wird unweigerlich untergehen.“

Die Erkenntnisse waren nicht neu, doch übertraf der Text an Konturen- und Tiefenschärfe alles, was etablierte Medien und Migrationsforschung zum Thema hervorgebracht hatten. Da Sieferle als politisch unverdächtig und sogar als intellektueller Geheimtip galt, wurde seine Intervention immerhin registriert. Neben Irritation und Verstimmung signalisierten die Reaktionen widerwilligen Respekt vor dem überlegenen Geist. Als er im September 2016 von eigener Hand starb, schrieb die Süddeutsche Zeitung: „Sieferle war ein unerschrockener, immer rationaler Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog. Konservativ war allenfalls sein Bewußtsein für natürliche Grenzen.“

Sieferles Bücher bereiten dem Kritiker Unbehagen

Aus seinem Nachlaß wurden zwei Bücher herausgegeben: „Das Migrationsproblem“ und „Finis Germania“, in denen die im Essay angerissenen Themen entfaltet beziehungsweise aphoristisch zugespitzt werden (JF 13/17). Eine große öffentliche Resonanz und Rezeption wäre natürlich gewesen. Stattdessen herrschte das sprichwörtliche Schweigen im Walde. Am 12. Mai erschien in der Frankfurter Allgemeinen ein Artikel über Sieferle, der das Schweigen zwar nicht durchbricht, aber eine indirekte Erklärung dafür liefert.

Die Überschrift „Am Ende rechts“ tönt wie eine Kriegsfanfare. „Rechts“ ist heute keine normale politische Verortung, sondern ein Stigma und steht synonymisch für indiskutabel, staatsfeindlich, semikriminell. Sieferle hätte aus der Position eines „gekränkten Narzißten“ zur Flüchtlingskrise „giftige, rechtsradikale Bücher“ verfaßt, giftete Autor Jan Grossarth. Er berief sich auf Bekannte und Freunde des Toten, von denen jedoch keiner genannt werden wollte. Sieferle sei an Krebs erkrankt, behauptet er fälschlich, außerdem habe ihm die Erblindung gedroht. Er sei „verbittert, todernst, vereinsamend“ gewesen und enttäuscht über den geringen Widerhall seines Werks. Die Satzkonstruktion: „Sieferle soll bei klarem Verstand gewesen sein“, ist perfide. Das Modalverb drückt hier eine ungesicherte Vermutung aus und insinuiert im Umkehrschluß, daß er möglicherweise nicht mehr ganz zurechnungsfähig war.

Die Zitate nähren den Eindruck, daß jemand ein wenig Jagdruhm auf sein uninspiriertes Haupt häufeln wollte. Doch so einfach liegen die Dinge wiederum nicht. Man kann aus dem Text auch eine verkappte Würdigung des „poetischen Freigeistes und großen Wirtschaftshistorikers“ herauslesen, verpackt in eine politisch-korrekte Sklavensprache. Wenn Sieferle „zu diesen Schlüssen kommt, ist das nicht trivial“, wird ein Anonymus zitiert, der den Verstorbenen „für einen der klügsten Deutschen der letzten 20 Jahre“ hielt.

Solche Sätze, auch wenn sie aus dem Munde eines Dritten stammen, wirken wie die Widerhaken des Selbstzweifels. Offenbar befand der FAZ-Autor sich im Zustand der kognitiven Dissonanz: Er konnte sich der Evidenz der Bücher, die ihm ein unüberwindbares Unbehagen bereiteten, nicht ganz entziehen. Doch weil er außerstande war, die Dissonanz aufzulösen oder wenigstens zu thematisieren, geriet ihm der Artikel zur dummdreisten Gemeinheit.

Falsch ist die Unterstellung, daß das Wissen um den nahen Tod – der hier ein selbstgewählter war – die Erkenntnisfähigkeit und Denkkraft zwangsläufig eintrübt und lähmt. Die Todesnähe kann ebenso die Überwindung von Lebenslügen, faulen Kompromissen und opportunistischen Rücksichten befördern. „Ins Finstere. Ins Schlachthaus. Und allein. Mit der Erzählung geh ich in den Tod. Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein anderes Ziel geführt.“ Die schonungslose Ehrlichkeit im Angesicht des Endes, welche die Titelheldin in Christa Wolfs „Kassandra“ hier reklamiert, hat auch Sieferle für sich beansprucht. In „Finis Germania“ vergleicht er sich mit dem Ikaros, der mit offenen Augen in die Tiefe stürzt und „die erhabene Aussicht genießt, solange sie sich bietet“.

Grossarth hätte also nachweisen müssen, wo Depression und Narzißmus in den Büchern zu Falschaussagen und logischen Brüchen geführt haben. Doch wäre er kaum fündig geworden, denn Sieferle schwelgte eben nicht in Untergangsszenarien, sondern fügte empirische Beobachtungen, historische Überlegungen und philosophische Reflexionen zu einem ebenso überzeugenden wie deprimierenden Mosaik zusammen.

Einheimische werden zur schutzlosen Beute

Multitribale Gesellschaften spalten und organisieren sich entlang von Stammesgrenzen. Der Rechtsstaat ist ebenfalls von der übergeordneten und verbindlichen Ordnungsstruktur zu einem konkurrierenden „Stamm“ herabgesunken. Archaisch konditionierte Stämme geben ihm nur noch in dem Maße nach, wie er sich als physisch stärker erweist. Sein Rückzug macht die atomisierten  Einheimischen zur schutzlosen Beute tribaler Gruppen, die in die rechtsfrei gewordenen Räume eigene Gesetze samt Steuer- (Schutzgeld-) und Sanktionsrecht einführen.

Schon heute bleiben selbst schwerste Vergehen an Leben und Gesundheit von Deutschen häufig ungesühnt. Begriffe wie „Integration“ oder „Resozialisierung“ gehen an der Realität völlig vorbei, denn die Täter sind bereits sozialisiert und integriert: in ihre Großfamilie, ihren Stamm und in den normativen Horizont ihrer Herkunftskultur. Es gibt für sie überhaupt keinen Grund, sich in ein Gemeinwesen einzufügen, das sich ihnen, indem es seine Schwäche demonstriert, als leichte Beute feilbietet. Zur Zeit sind wir in der Phase, in der der Staat sein Versagen und deren Folgekosten durch die finanzielle, politische, juristische und propagandistische Repression der Deutschen noch kompensiert und notdürftig verschleiert.

Sieferles Schlußfolgerung, „daß eine kulturelle Formation, nämlich das indigene Volk, zugunsten anderer Volksgruppen auf seine spezifische Identität verzichten soll“, wäre die Diskussion jedenfalls wert. Doch der FAZ-Mann kann sich nur empören: „Es liest sich so, als gebe es ein Geheimprogramm einer ethnischen und kulturellen Auslöschung. Der ‘Auschwitz-Mythos’, wie Sieferle in toll-dreisten Anführungszeichen behauptet, verlange nach dem Verschwinden der Deutschen.“ 

Die Entwicklung folgt keinem Geheimprogramm, sondern einem unheimlichen, aber klar erkennbaren Mechanismus. Die Behandlung von Auschwitz als „Numinosum“, als ein unbegreifliches, Schauder und zugleich Vertrauen erweckendes Geschehen, „dem man sich nur in religiöser Haltung, nicht aber in wissenschaftlicher Einstellung nähern darf“ (Ernst Nolte), ist wohl unstrittig. Die Kombination aus zivilreligiöser Trance und Dauerbuße macht die Gemeinde weder glücklich noch politisch klug. Die tumultarischen Willkommens-Exzesse 2015, als Deutschland sich laut dem britischen Historiker Anthony Glees als „Hippie-Staat“ gebärdete, war ein infantiler Ausbruch aus der Daueran-spannung der Schuldgemeinschaft in die Ausgelassenheit der Spaßgesellschaft. Im Ergebnis schloß sich der Kreis des selbstzerstörerischen Irrsinns.

Solche Überlegungen liegen außerhalb des politisch-normativen Horizonts des aktuellen Qualitätsjournalismus, der zwei Möglichkeiten hat: entweder den Horizont zu überschreiten oder den Analytiker seinerseits zu pathologisieren, das „Migrationsproblem“ und „Finis Germania“ als „Verschwörungstheorie“ zu deuten und ihnen „die Geschichte einer spätbürgerlichen Verbitterung“ zu entnehmen. Der FAZ-Autor hat die leichtere und schlechtere Möglichkeit gewählt.

Sieferle habe „sich spät entschieden, seinen allerersten Molotowcocktail zu werfen: auf die Demokraten“, schreibt er. Ach, was! Er hat gezeigt, daß die Demokratie, die sich heute präsentiert, einem erloschenen Stern gleicht, dessen vor Urzeiten ausgesandte Leuchtkraft höchstens noch trügerisch durch den Raum irrlichtert. Seine Bücher hingegen sind ein Spiegel, aus welchem den Lückenmedien die Nichtigkeit ihres Tuns entgegenstarrt. Deshalb meiden sie sie wie die Pest.