© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Martin Luther und die Geburt des modernen Menschen
Zerrissen und widersprüchlich
Jost Bauch

Martin Luther hat die christliche Religion von Äußerlichkeit auf Innerlichkeit umgestellt und damit die Grundlagen für den modernen Menschen geschaffen. Denn von nun an galt das Individuum als eigenes Kraftzentrum. Es galt als unteilbar (eben individuell) und als willensmäßig selbstbestimmt, eben als Subjekt (bei Luther nur in dieser Welt, nicht gegenüber Gott.) Die kopernikanische Wende zur Innerlichkeit ist bei Luther gegeben, weil, wie der Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz in „Zurück zu Luther“ richtig schreibt, „die individuelle Erfahrung des lebendigen Gottes Luthers religiöse Urszene ist“. Der luthersche Christ „ist einsam, einzeln und innerlich“.

Denn es zählt nur der Glaube (sola fide), und im Glauben erlangt der Christ ein unmittelbares, ja geradezu intimes Verhältnis zu Gott. Wie alleine das Individuum in seiner Glaubensarbeit in dieser Welt auch steht, genau durch diesen in seiner Individualität nicht substituierbaren Glaubensakt wird das Individuum kolossal aufgewertet. Denn es hat zu Gott eine duale, persönliche Beziehung, die ihm von keinem und keiner Institution genommen werden kann.

Aber, und das ist die Kehrseite der Freiheit, das Individuum bleibt alleine in seinem Glaubensakt – institutionelle Absicherungen gibt es letztlich nicht. Es gibt keine Entlastungsmechanismen wie im Katholizismus, die die Verantwortung, in einer Gott-unmittelbaren Beziehung zu stehen, auf weitere (rituelle oder institutionelle) Schultern stellen. In der Lutherschen Rechtfertigungslehre gibt es keine Werkgerechtigkeit, durch die das Individuum in irgendeiner Form in seiner Beziehung zu Gott Einfluß nehmen könnte. Denn das hieße, daß Gott sich bestechen ließe und das Individuum durch gute Taten und in einer instrumentellen und berechnenden Beziehung im Tausch von guten Taten zu Gottes Wohlwollen göttliche Gnade erwirken könne (weswegen Luther ja den Ablaßhandel so vehement bekämpfte).

Der Luthersche Glaube lebt fast ohne Außenstützen – eine Kompression der Religiosität auf Innerlichkeit. Dadurch wird der Mensch eben frei, daß er sich individuell Gott im Glauben zuwenden muß. Das bringt ihn leicht an den Rand der Überforderung, denn es gibt außer dem Glauben selbst keine Glaubensgewißheiten. Einzig die Bibel als schriftliche Überlieferung der Tradition läßt Luther als Außenstütze gelten, das mündlich tradierte und von den Kirchenvätern entfaltete Glaubensgut erkannte er nicht in gleicher Weise an. Doch auch hier kommt es auf die Verinnerlichung des geschriebenen biblischen Wortes an; die Subjektivität des Glaubensaktes läßt sich nicht aufheben. Der Mensch kann letztlich gar nicht wissen, ob er richtig glaubt, er kann das nur glauben und auf die Gnade Gottes hoffen.

An dieser Ungewißheit muß der Mensch verzweifeln. Der protestantische Christ ist ein Leidender, ja er muß zum Punkt der Verzweiflung getrieben werden, damit er zur Zuversicht und Heilsgewißheit gelangen kann. Ein Glaube an Christus ohne Schmerz, ohne Zweifel, ohne Kampf mit sich selbst ist für Luther nicht zu haben, das wäre eine postheroische Bequemlichkeits-Religiosität, ein Wohlfühlprotestantismus moderner Prägung, der nicht zu Gott führt. Der Mensch muß nach Luther im Glauben leiden, weil er eine sündige Natur hat – die Natur macht ihn zum Feind Gottes. Permanent muß er gegen seinen Willen wollen. Er muß seine Triebe, seinen Egoismus, seine Begehrlichkeit bekämpfen und zügeln.

Der gläubige Protestant ist heroisch: Er befindet sich im Kampf mit sich selbst, er wankt und schwankt in seinem Glauben, und nur im Durchschreiten dieses irdischen Tals der Tränen rückt er näher an Gott. Der Protestant hat manisch-depressive Züge. Denn der Mensch ist Schnittstelle zwischen dem Reich Gottes (civitas dei) und der irdischen Welt (civitas terrena). Und der Christenmensch hat die Aufgabe, soweit er kann, dem Reich Gottes zu folgen und das irdische Reich des Teufels zu bekämpfen. In dem zermürbenden Kampf gegen die Welt in sich selbst bekommt er dann die Gewißheit, daß er auch schon Teil der kommenden, von Christus bewohnten „Civitas dei“ ist.

Geradezu widersprüchlich schlägt die depressive Selbstkasteiung in Heilsgewißheit um, in die Paulinische gelassene Haltung des „Als ob nicht“. In Wahrnehmung der „Civitas dei“ muß man die irdische Welt nicht so wichtig nehmen. „Paulus ruft die Gläubigen gerade nicht zur Weltverantwortung, sondern zur ‘Weltlockerung’. Wir sollen als Gläubige nicht die sozialen und politischen Probleme der Welt lösen, sondern unser Verhältnis zu ihr lockern“, so Norbert Bolz in seinem Luther-Buch.

Die Entdeckung der Subjektivität als eigenes Kraftzentrum und die Zurückstufung institutioneller Außenstützen bedeuten in der Verhaltenssteuerung: der äußerliche Zwang wird zum Selbstzwang. Damit läutet Luther de facto das bürgerliche Zeitalter ein.

Hier kommt die andere Seite von Luther zum Vorschein: die Absage an die mönchische Askese, die lebensbejahende, ja lebenslustige Kraft seiner Choräle, die positive Bewertung der kirchlichen Gemeindearbeit. Luthers Lehre ist an vielen Stellen paradox und widersprüchlich, aber es ist gerade die Einheit dieser Widersprüche, die seine Lehre so zeitlos und aktuell macht. Luther zelebriert geradezu diese Paradoxialität, wenn er in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ schreibt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbar Knecht aller Ding und jedermann untertan.“ Der Glaube macht den Menschen frei, und das Liebesgebot des Glaubens macht, daß der Christenmensch sich aus freien Stücken dem Dienst am Nächsten unterwirft.

Absolut modern bleibt Luthers Konzept der „Subjektivität“. Denn es zeigt die Zerrissenheit des modernen Menschen. Einerseits wird der Mensch in Luthers Lehre frei und selbstverantwortlich, andererseits entstehen damit gleichzeitig die Anfechtungen des Hochmutes. Aus Angst des Protestantismus vor der eigenen Courage, so schreibt der Philosoph Michael Jaeger in „Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart“, soll die Sünden-, Buß- und Rechtfertigungslehre „als nachgereichte Vorsichts- und Kompensationsmaßnahme dafür sorgen, daß uns die neue Freiheit nicht zu Kopfe steigt“ – nur durch die Gnade Gottes und den Glauben (sola gratia et fides) könne der Mensch gerettet werden.

Die Luthersche Entdeckung der Subjektivität als eigenes Kraftzentrum und die Zurückstufung institutioneller und ritueller Außenstützen bedeuten in der Verhaltenssteuerung Umstellung von Außenorientierung auf Innenorientierung, der äußerliche Zwang wird zum Selbstzwang. Damit läutet Luther de facto das bürgerliche Zeitalter ein. Das Mittelalter mit seinen Adelshierarchien verblaßt, die Herrschaft des Bürgertums steht vor der Tür. Der berühmte Soziologe Norbert Elias hat den Prozeß der Zivilisation als ein großes Projekt der Sozialdisziplinierung durch zunehmende Affektkontrolle mit einer langfristigen Umwandlung der Verhaltenssteuerung von „Außenzwängen“ auf „Innenzwänge“ beschrieben. Diese gesellschaftlich geforderte Affektkontrolle setzte in der noch mittelalterlich strukturierten „höfischen Gesellschaft“ ein, um dann in der bürgerlichen Gesellschaft zur Norm zu werden.

Mit der Zügelung der Affekte erweiterten sich Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Langsicht, Kalkül und Selbstbeherrschung konnten sich durchsetzen, der moderne Mensch als „homo oeconomicus“ war geboren. So wie der Christenmensch nach Luther die Herrschaft Gottes verinnerlichen muß, so muß der moderne Mensch in der säkularen Welt die gesellschaftlich sakrosankten Verhaltensimperative verinnerlichen. Bruno Preisendörfer, der ein großartiges Buch über Luther geschrieben hat („Als unser Deutsch erfunden wurde“), umschreibt die Lutherschen Verhaltensimperative wie folgt: „Sei fleißig und ordentlich, erfülle deine Pflichten im Ehebett, erziehe deine Kinder im Glauben an Gott und im Dienst für die Obrigkeit, mehre dein Hab und Gut und halte es für die Erben zusammen, hege deinen Körper, doch überpflege ihn nicht, bewahre deine Seele im Vertrauen auf das, was dir und ihr am Jüngsten Tag bevorsteht.“

Mit diesen Tugenden, so der berühmte Soziologe Max Weber, statuiert Luther eine „innerweltliche Askese“, eine spezifische „protestantische Ethik“, die auf eine Rationalisierung der Lebensführung abstellt, eine Lebensführung, die dem Ethos des erstarkenden Bürgertums entspricht und damit letztendlich, so Max Weber, als entscheidender Steigbügelhalter des entstehenden Kapitalismus dient.

Man kann sich als Märtyrer für seine Nation oder seine Religion opfern, aber ein Martyrium für die Arbeit? Das ist nicht erhaben, das ist komisch, wenn man sich bis zur Selbstaufgabe „der maximalen Schuhsohlen- und Nähnadelproduktion hingibt“.

Im Grunde werden dabei die alten mönchischen Tugenden, die im Mittelalter weltabgewandt, nur hinter Mauern im Schonraum des Klosters leben konnten, nunmehr abgemildert und teilsäkularisiert in die Welt gesetzt. Besondere Bedeutung kommt dabei der Arbeit zu. Sie ist im Alltag eine durchgängig disziplinierende Kraft, sie unterbindet die „Wollüsterei“, die diejenigen umtreibt, die faul sind und nicht arbeiten wollen, und diejenigen, die (wie zu Luthers Zeiten die Fugger) wegen des angehäuften Vermögens nicht mehr arbeiten müssen. Luthers Protestantismus ist durchweg kleinbürgerlich: Alle sollen durch Arbeit ihr Auskommen haben; ein gemäßigtes Streben nach Besitz alleine auf Arbeit gründend führe zu einem rechten Lebenswandel; Profit aus Handel und Geldgeschäften („Wucher“) lehnte Luther ab.

Hier unterscheidet sich Luther deutlich von den Calvinisten und später von den Puritanern, die eine sehr viel kapitalismusfreundlichere Haltung eingenommen haben. Radikalisiert wurde das Luthersche Arbeitsethos durch die Pietisten. Für sie wird Gottes Reich in dieser Welt schon sichtbar, und damit wird eine Vorstufe zur Seligkeit im Diesseits möglich. Ermöglicht wird diese Seligkeit durch unermüdliches Arbeiten. Sind bei Luther und Calvin Gottes Gnade vorherbestimmt („Prädestinationslehre“), so kann die Gnade bei den Pietisten durch ewiges Streben und rastlose selbstdisziplinierende Arbeit erworben und erwirtschaftet werden.

Unter Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, wurde diese pietistische Vorstellung zur preußischen Staatsdoktrin, hier wurde die Grundlage für die Arbeitsmobilmachung und Arbeitswut der Deutschen, so Thea Dorn in ihrem Werk zusammen mit Richard Wagner „Die deutsche Seele“, geschaffen. Im Pietismus liegt die Grundlage der deutschen Arbeitswut, wobei der Deutsche „ganz nur versunken in seine Sache still und langsam, aber mit einer von außen gesehen furcht-, ja schreckenerregenden Stetigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit, in sich selbst und in seine Sache wie verloren arbeite“ (Thea Dorn).

Wie der Soziologe Max Scheler ausführte, wurden die Deutschen damit zur meistgehaßten Nation, weil der Deutsche als „welthistorischer Emporkömmling“ das kommode Leben der anderen europäischen Nationen durcheinanderbrachte. Er hat die anderen Nationen gezwungen, sich ebenfalls diesem Arbeitsethos anzupassen. Und so finden wir heute noch die Spuren dieser Mentalität in der Arbeitswelt in praktisch allen Industriestaaten, wenn auch von einfachen Arbeitern verlangt wird, daß sie mit Hingabe und Leidenschaft und großem inneren Engagement, möglichst eingebunden in eine „corporate identity“, ihre Arbeit verrichten. Sarkastisch stellt dazu der Welt-Autor Volker Kitz fest: „Millionen sitzen im Büro, stehen am Fließband oder kriechen mit einem feuchten Tuch auf dem Boden herum und fragen sich: Was läuft falsch bei mir, wenn ich keine Leidenschaft spüre?“ Bei den Pietisten, so betont Hermann Lübbe, wurde die Arbeit zu einer sakralen Ersatzhandlung, eine Hingabe an die Pflicht „mit fast gesuchter heroischer Glücksverachtung“ (Scheler). Arbeit als Martyrium.

Max Scheler resümiert, daß man sich als Märtyrer für seine Nation, seinen Staat oder seine Religion opfern könne, aber ein Martyrium für die Arbeit? Das ist nicht erhaben, das ist komisch, wenn man sich bis zur Selbstaufgabe „der maximalen Schuhsohlen- und Nähnadelproduktion hingibt“. Am Ende erweist sich der moderne Mensch, der wesentliche Teile seiner Identität über Arbeit bildet, als Parodie seiner selbst.

Luther hat mit der Aufwertung der „innen-geleiteten Persönlichkeit“ (David Riesman) und der Hochschätzung der Arbeit als Instrument der Sozialdisziplinierung die Grundlagen für den Entwurf des modernen Menschen geschaffen. Eine „Vergötzung“ der Arbeit ist aber mit Luther nicht zu machen. Denn diese Vergötzung ist Teil einer Selbstermächtigung des Menschen, über einen disziplinierten Lebenswandel die Gnade Gottes erwirken zu wollen. Das ist nach Luther überheblich. Denn nicht gute Werke und ein rechter Lebenswandel machen einen guten Mann, sondern ein guter im Glauben gefestigter Mann macht gute Werke. In Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ heißt es unmißverständlich: „Also wer do will gute Werke tun, muß nit an den Werken anheben, sondern an der Person, die die Werk tun soll. Die Person aber macht niemand gut denn allein der Glaub.“ Ohne Glauben an Gott geht bei Luther nichts, und ohne diesen Glauben ist die Welt verloren. Die Gegenwart gibt Anschauungsunterricht.






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschland als Wertegemeinschaft („Nation ist viel konkreter“, JF 15/17).

Foto: Luther als Augustinermönch in seiner Erfurter Zelle – Installation: „Sei fleißig und ordentlich“