© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Hiesig mit Fremdheitsgefühlen
Auch die zweite Generation leidet an den ererbten Traumata von Flucht und Vertreibung
Thorsten Hinz

Im Buch der Literaturwissenschaftlerin Roswitha Schieb und der Schriftstellerin Rosemarie Zens geht es um die Folgen von Flucht und Vertreibung in der zweiten Generation, um das Befinden derer, welche ihre Schrecken nicht selbst oder in frühester Kindheit erlebt haben und dennoch von ihnen nicht bloß betroffen, sondern geprägt worden sind. Die Vererbung von Traumata ist inzwischen gut erforscht, so daß die Herausgeberinnen und Autoren sich auf abgesichertem Terrain bewegen. Natürlich greift die Thematik über den Bereich der Individualpsychologie hinaus. Die Texte sind in vier großzügig definierte Kapitel unterteilt. Neben unterschiedlichen Prosatexten gehören auch Gedichte dazu.

Der lapidare Titel „Zugezogen“ verharmlost nichts. Er will den Fokus auf das schwer zu fassende Fremdheitsgefühl richten, das viele Nachkommen von Ost- oder Sudetendeutschen, die in der DDR und der Bundesrepublik geboren wurden, miteinander teilen. Zugleich werden den deutschen die polnischen Erfahrungen an die Seite gestellt.

In beiden deutschen Staaten wurden die Gebietsabtrennungen und Vertreibungen theologisch, als Strafe für Weltkriegsverbrechen, und mit der sogenannten „Westverschiebung“ Polens erklärt. Demnach hätte die Vertreibung der Polen aus Lemberg die Vertreibung der Deutschen aus Breslau und Danzig als Akt ausgleichender Gerechtigkeit notwendig gemacht. Diese ebenso dumme wie zynische Gleichung wurde durch einen Moralismus vervollständigt, der die Monstranz der „Versöhnung“ vor sich hertrug. Die „Versöhnung“ bestand darin, daß die Deutschen die nationalpolnische Geschichtsinterpretation akzeptierten und verinnerlichten.

Im Vorwort wird nun klargestellt, daß die Grenzverschiebungen und Vertreibungen „Resultate machtpolitischer Erwägungen und nicht etwa moralischer Betroffenheit“ waren. Die „Abwehrreflexe“ gegenüber dem Thema gehören zur allgemeinen „Geschichtshygiene“ nach 1945. Während die Abrißwut, die sich gegen vermeintlich belastete Architektur richtete, der Lust an der Rekonstruktion gewichen ist, tobt der Putzfimmel in bezug auf die alten Ostgebiete stärker denn je. Schulen, Straßen, Plätze werden umbenannt, Denkmäler abgebaut.

Ein polnischer Kunsthistoriker wundert sich über deutsche Professorenkollegen, die nicht wüßten, wo Breslau liegt, als würde hinter der Oder die Wüste beginnen. Das ist ein nachgerade historischer Perspektivenwechsel! Auf die Polen, die im Begriff sind, sich mit der deutschen Vergangenheit ihrer Region ins Benehmen zu setzen, wirkt die deutsche Amnesie befremdlich und sogar beleidigend.

Der dramatischste Erfahrungsbericht stammt von der Schriftstellerin Jenny Schon, die 1942 in Böhmen geboren wurde. Ihre Familie verschlug es ins katholische Rheinland. Sie war ein „komisches Kind“, das wegen seiner Herkunft, des Dialekts und ihrer Religion gemobbt wurde. Bei ihrer Mutter fand sie wenig Halt. Sie nahm bei ihr eine stete Panik wahr, die sie auf den 1951 geborenen Sohn übertrug, der selber Anzeichen von Panik zeigte. 1961, unmittelbar nach dem Mauerbau, ging Jenny nach Berlin. Eine durchaus typische Entscheidung, denn Berlin, die nun östlichste Großstadt und deutscher Schmelztiegel, wurde von Betroffenen am ehesten als Heimatersatz empfunden. Sie wurde eine stramme Linke, Maoistin, fühlte sich als Weltbürgerin. 

Der Mauerfall und der Bürgerkrieg in Jugoslawien brachte ihr Gleichgewicht durcheinander. Sie erlitt nun ebenfalls Panikattacken und erinnerte sich, daß 1945 vor ihrem Haus Deutsche erschossen und die Leichen in ihren Flur geworfen wurden, wo das Blut wochenlang an den Wänden klebte. Ein Hauskauf in Böhmen als Selbsttherapie erwies sich in jeder Hinsicht als Fehlinvestion. Heute erklärt sie ihren als invalid festgestellten Zustand mit einer Gen-Mutation aufgrund traumatischer Streßsituationen in der Kindheit, die zu dauerhaften Entgleisungen des Streßhormonsystems und Depressionen führt.

Nicht alle Berichte sind so düster. „Und ihr wollt wirklich nicht alles wiederhaben?“ fragte die Bewohnerin eines Hauses, das früher einer deutschen Familie gehört hatte. So erlebte es der spätere Karmelitenpater Reinhard Körner, Jahrgang 1951, als er in den siebziger Jahren erstmals mit Eltern und Geschwistern aus der DDR nach Niederschlesien fuhr. Die Frage drückte neben Erleichterung auch Respekt aus. Der Verzicht war keineswegs so selbstverständlich, wie er in Deutschland behandelt wird.

Die Journalistin Barbara Lehmann bezeichnet Merkels „Wir schaffen das!“ als neue Durchhalteparole, in der die Reflexe und Verhärtungen der Kriegs- und Nachkriegszeit sich zurückmelden. Hätte es jenseits der offiziellen Bewältigung eine emotionale Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gegeben, wäre die heutige Gesellschaft „einerseits wärmer und andererseits rationaler“.

Für die Polen waren die „wiedergewonnenen“ in Wahrheit fremde Gebiete. Der Unterschied der vertriebenen Ostpolen zu den Ostdeutschen bestand darin, daß die Provinzen, in die sie zogen, entleert waren und sie diese als die historischen Sieger in Besitz nehmen sollten. Die Propaganda versuchte, sie mit markigen Liedern zu motivieren. Das klang dann so: „Wir lassen alles zurück, wir fangen hier in der urpolnischen Erde neu an, und mit unserem Lemberger Humor schaffen wir das auch spielend.“ Doch die traurigen Melodien konterkarierten den martialischen Text.

Gemeinsamkeiten zu Polen der zweiten Generation

Die Publizistin Beata Kozak, Jahrgang 1967 und aufgewachsen in einem Ort zwischen Stettin und Posen, schreibt, daß in ihrem Familien- und Bekanntenkreis niemand an die Fama von den urpolnischen Gebieten, in die man nun eben zurückgekehrt sei, geglaubt habe. Man habe sie verballhornt, indem man die Begrüßungsfloskel: „Schön, daß ihr gekommen seid“, mit dem Satz beantwortete: „Wir sind nicht gekommen, wir sind zurückgekehrt!“ 

Für polnische Kinder bedeutete die Entdeckung der deutschen Spuren ein Abenteuer. Die Eltern und Großeltern sahen die spielerische Aneignung der neuen Lebensumwelt nicht immer gern; manche empfanden sie als Verrat an der zurückgelassenen Heimat.

Die Stettiner Schriftstellerin und Polonistikprofessorin Inga Iwasiow urteilt über die Mentalität ihrer Landsleute mit rücksichtsloser Härte. Sie seien „Kinder schweigender Eltern“, die „Trunksucht, Unglück, Armut“ ererbt hätten, „Nachfahren von Harsadeuren, die mit einer Ulanen-Phantasie beschenkt waren“. Sie „übertrumpften die anderen moralisch“, sie seien „hochmütig und von Komplexen beladen (...), unempathisch und größenwahnsinnig. (...) Haßerfüllt und bereit, sich mit jedem zu verbrüdern.“ Liest sich das nicht wie eine Beschreibung der Bundesrepublik in Zeiten der Willkommenskultur? In der historischen Distanz verblassen alte Gegensätze und Aversionen und treten deutsch-polnische Gemeinsamkeiten hervor.

Roswitha Schieb, Rosemarie Zens (Hrsg.): Zugezogen. Flucht und Vertreibung – Erinnerungen der zweiten Generation. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016, gebunden, 195 Seiten, 24,90 Euro