© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/17 / 26. Mai 2017

Vom Cabrio zum Bunker
Vor 75 Jahren wurde ein aus London initiiertes Attentat auf Reinhard Heydrich, den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, verübt
Stefan Scheil

Die Begebenheit selbst muß nicht noch einmal ausführlich erzählt werden: Am Mittwoch, dem 27. Mai 1942, gegen 10.35 Uhr, wurde der Wagen Reinhard Heydrichs in einer Haarnadelkurve des Prager Vororts Liben von zwei bewaffneten Männern angegriffen. Wenige Tage später verstarb Heydrich, also der deutsche Statthalter des Protektorats Böhmen und Mähren, an den Verletzungen, die er bei dem Attentat erlitten hatte. Aber diese Begebenheit sollte weite Kreise ziehen. 

Erinnerungsort, das ist einer aus der überschaubaren Zahl neuerer und modischer Begriffe der Geschichtsschreibung, die tatsächlich etwas aussagen können. Er beschreibt die vielfältige und dauerhafte Wirkung, die ein einzelnes Ereignis haben kann, und das Heydrich-Attentat entfaltete in der Tat etliche Aspekte. Durch seinen gewaltsamen Tod erhielt das NS-Regime zunächst einmal intern einen Schlag von eigentümlicher Prägung. Immer war es üblich gewesen, daß seine bedeutenden Funktionäre im offenen Cabrio durch die Landschaft fuhren, oft genug auch langsam und zu angekündigten Zeiten an öffentlich zugänglichen Orten, nicht selten durch unkontrollierte Menschenmassen. Letzteres tat Hitler besonders gern, und schon Mitte der dreißiger Jahre hatte ein präziser Beobachter wie Denis de Rougemont sich bei einem solchen Erlebnis in Frankfurt gewundert, daß weder bei dieser noch sonst einer anderen von Hunderten Gelegenheiten je ein Attentat ausgeführt worden war. Jeder geübte Schütze hätte das seiner Meinung nach erfolgreich tun können.

Nun, im Prag des Jahres 1942 hatte es jemand getan. Technisch war dies nicht schwer gewesen. Auch Heydrich hatte es sich zur Regel gemacht, im durchaus überschaubaren Zeitrahmen und weitgehend auf den immer gleichen Wegen zu seiner Dienststelle zu fahren. Wenn er an der besagten engen Kurve vorbeikam, war er langsam und angreifbar, das war nicht schwer herauszufinden gewesen. Die Selbstsicherheit dieses Verhaltens ist aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar.

Doch wäre auch im Prag des Jahres 1942 kaum jemand von selbst auf die Idee eines Anschlags gekommen. Zwar waren es Tschechen, die auf Heydrich schossen, doch taten sie es nach sorgfältiger Ausbildung in Großbritannien, gezieltem Luftlandeeinsatz und in ständiger Fühlung mit ihrer Kommandostelle auf den Inseln. In Prag und überhaupt in der Tschechei hatte sich die Mehrheit der Bevölkerung dagegen einstweilen mit der deutschen Herrschaft abgefunden. Einen direkten Angriff auf deren obersten Repräsentanten plante dort niemand. 

Der deutsche Gegenterror gipfelte im Lidice-Massaker

Dem tschechischen Pragmatismus entsprechend, blieb die Aktion denn auch nach dem Krieg lange umstritten. Daß der Tod des deutschen Statthalters an der NS-Herrschaft nichts ändern würde, mußte den Beteiligten vorher bewußt gewesen sein. So wurde die Aktion „Anthropoid“, wie sie in London getauft worden war, denn auch nach 1945 bei vielen in der Tschechoslowakei nur zögerlich als Teil eines tschechischen Widerstands gedeutet. Zu groß waren die Opfer gewesen.

„Europa in Brand zu setzen“, wie die stete Aufforderung vom britischen Premier Winston Churchill hieß, das funktionierte auch in diesem Fall. Der deutsche Gegenterror richtete sich erneut gegen die wenig verantwortlichen Tschechen im Land und gipfelte in den Massentötungen von Lidice. Auf diese Weise wurde das Heydrich-Attentat zum deutsch-tschechischen Erinnerungsort, während der britische Beitrag wie so oft eigentümlich in den Hintergrund trat.

Heydrichs Tod geriet aber auch zum deutsch-deutschen Erinnerungsort. Dies geschah nicht nur, weil mit seinem Ableben die sowieso schon vorhandene Neigung der Spitzen des NS-Regimes, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, erheblich verstärkt wurde. Die Zeiten im offenen Wagen waren vorbei. Der Weg ging zügig vom Cabrio zum Bunker und der entsprechenden Mentalität.

Doch geriet gerade diese vergangene Phase dann dreißig Jahre später in den Fokus des deutschen Linksextremismus und dessen Sympathisantenumfeld. Es beflügelte deren Phantasie, daß sich 1942 in Prag nicht nur Reinhard Heydrich, sondern auch der spätere bundesdeutsche Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer aufgehalten hatte. Schleyer arbeitete beim „Centralverband der Industrie für Böhmen und Mähren“, und wenn er auch nicht über die Rolle eines Sekretärs herausgekommen war, schien es politisch angezeigt, ihn unmittelbar mit Reinhard Heydrich in Verbindung zu bringen. 

Wenige Monate nach Schleyers Entführung – aus einem Auto heraus – und dessen späterer Ermordung behauptete Daniel Cohn-Bendit 1978 in einer Fernsehrunde, Schleyer sei auch in Prag regelmäßig mit Reinhard Heydrich ins Büro gefahren und deshalb nur zufällig im Mai 1942 dem damaligen Attentat entgangen. Zwar stimmte weder dieses noch ein anderes der damals zahlreich umlaufenden Gerüchte über Verbindungen zwischen Schleyer und Heydrich, die aus der DDR noch durch Dokumentenfälschungen befeuert wurden. Trotzdem wurde das Heydrich-Attentat für einige Zeit zum Teil der virtuellen Legitimation des Kampfes gegen die angeblich immer noch faschistische Bundesrepublik. Wobei die Kämpfer kaum wahrhaben wollten, wie verwechselbar sie selbst mit dem waren, was sie zu bekämpfen behaupteten. Der Regisseur Lutz Hachmeister verarbeitete das in einem Film und sprach in diesem Zusammenhang von der „Ähnlichkeit der Militanz der 30er und der 70er Jahre“. In der Tat ein weiter Kreis, der hier gezogen worden war.