© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Pankraz,
M. Schulz und der Kern von Niederlagen

Siege haben viele Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind. So dachte man wenigstens bis noch vor kurzem. Aber die neuesten Entwicklungen in der hiesigen Politik lassen einen jetzt an der alten Überzeugung zweifeln. Seit Wochen nun schon wird im „öffentlichen Diskurs“ kaum ein Wort über die Sieger der kürzlichen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen verloren, statt dessen wimmelt es in Zeitungen, Fernsehen und Internet von ausführlichen Reportagen, Analysen und väterlichen Ratschlägen über und für den (Mit-)Wahlverlierer Martin Schulz von den Sozialdemokraten in Berlin.

Er selbst hat mehrmals die „krachende Niederlage“, die er erlitten habe, eingestanden, doch Niederlagen seien dazu da, daß man daraus lerne, und er, Schulz, werde mit Sicherheit daraus lernen und es nächstes Mal besser machen. Das klingt stolz und kräftig, aber ist es auch realistisch? Daran darf man zweifeln. Bereits ein erster Blick in die (spärliche) Literatur über das Wesen von Niederlagen belehrt einen darüber, daß der, der die Niederlage erleidet, in der Regel nichts davon hat, ob er daraus lernt oder nicht. Es sind lediglich Zuschauer oder direkte Konkurrenten, die aus Niederlagen eventuell Gewinn ziehen, nicht die Erleider selbst.

Von Gustav Stresemann, dem zweifellos besten deutschen Reichskanzler während der Weimarer Zeit zwischen 1918 und 1933, ist die erstaunliche Feststellung überliefert: „Früher haben die Frauen auf ihrem eigenen Boden gekämpft. Da war jede Niederlage ein Sieg. Heute kämpfen sie auf dem Boden der Männer. Da ist jeder Sieg eine Niederlage.“ Leider ist nicht überliefert, in welchem Kontext Stresemann das gesagt hat. War so etwas damals wirklich ernst gemeint? Oder vielleicht doch nur ein für die damalige Zeit etwas schlüpfriger, gewissermaßen proto- und profeministischer Kasinoscherz? Wir wissen es nicht.


Verläßlichere Auskunft über den Charakter persönlicher Niederlagen findet man in dem „Lexikon der Niederlagen“, das in mehreren Bänden bis zur letzten Jahrhundertwende als Goldmann-Taschenbuch in höchsten Auflagen erschien und auch noch heute via Amazon viele Abnehmer findet. Die dort erzählten und exakt recherchierten Ereignisse ergeben ein wahrhaft schauerliches, groteskes Gesamtbild dessen, was Niederlagen im Kern bedeuten: Sie sind für den, der sie erleidet, immer individuelle Katastrophen, die zudem bei den Zeitgenossen eher schadenfrohes Gelächter statt Mitleid hervorrufen.

Da ist zum Beispiel die Geschichte des Schlangenmenschen, der sich bei einer öffentlichen Vorführung so kunstreich und sensationell verknotet, daß er seine Glieder am Ende nicht mehr entwirren kann, hilflos verharrt und als handliches Bündel in die Klinik abtransportiert werden muß. Oder die Geschichte von dem französischen Zugschaffner, der auf der Strecke Châlons–Epernay im ersten Abteil, in dem er die Fahrkarten kontrolliert, feststellen muß, daß sämtliche Reisende im falschen Zug sitzen – und der dann in den folgenden Abteilen allmählich realisiert, daß er selbst es ist, der im falschen Zug Dienst tut.

Auch liest man von einem Selbstmörder, der aus dem 86. Stock springt und von einer Windbö wohlbehalten auf den Sims des 85. Stocks geweht wird, von Einbrechern, die aus Versehen ihren „Arbeitskoffer“ nebst Anschrift am Tatort stehenlassen, von Gefängnisausbrechern, deren Fluchttunnel ausgerechnet im Arbeitszimmer des Zuchthausdirektors mündet. Typisch schließlich auch das Schicksal jenes Mannes, der in einer Talkshow als „idealer Ehegatte“ präsentiert wird, um am nächsten Tag wegen Bigamie verhaftet zu werden, weil ihn seine erste Frau auf dem Bild-schirm wiedererkannt und angezeigt hatte.

Für derartige Niederlagenerleider empfindet man natürlich kein Mitleid. Doch auch die Schadenfreude bleibt begrenzt. Der Erfolg des „Lexikons der Niederlagen“ speist sich wohl in erster Linie aus einer Art Bangigkeit. Viele Leser sehen die Niederlagenerleider als schwarze Folie zum eigenen alltäglichen Kampf um Pluspunkte und gegen Minuspunkte, nehmen die Niederlage anderer als Warnsignal vor den Gefahren der sogenannten Selbstoptimierung.Viele Zeitgenossen halten sich für geborene Pechvögel, und die Entdeckung, daß sie damit nicht allein stehen, verschafft ihnen wahrscheinlich einigen Trost.


Den Erleider selbst freilich vermag das kaum zu trösten. Seine übliche Bitte um eine „zweite Chance“ wird faktisch nie erfüllt, zumindest in der Politik nicht. Dort wird er nach seiner  Niederlage, besonders wenn diese „krachend“ war, fast automatisch in die zweite Reihe oder gar ins totale Aus verbannt. Es ergeht ihm noch schlimmer als dem Fahrkartenknipser im falschen Zug oder dem Geldschrankknacker mit dem aus Versehen stehengelassenen Arbeitskoffer. Seine Berufskollegen oder Kumpane machen ihn ungerührt zum Sündenbock für ihre eigenen Verfehlungen. 

Es sei denn, die krachende Niederlage entpuppte sich später als unerwarteter Glücksfall für die Eisenbahn, respektive für die Gangstertruppe. Auch für solche seltenen Vorkommnisse liefert das Lexikon der Niederlagen interessante Beispiele. Unter dem Stichwort „Die mißlungenste Aufbahrung“ lesen wir amüsiert: „Zwei Tage lag der Bischof von Lesbos, Nicephorus Glycas, im März 1896 schon aufgebahrt. Die Gläubigen defilierten an seinem Sarg vorbei, und mehrere Würdenträger hielten die Totenwache. Plötzlich setzte sich der Bischof auf und herrschte die Defilierenden zornig an: ‘Laßt doch das Gaffen sein und geht an eure Arbeit!’ Die mit großer Sorgfalt vorbereitete Beerdigung fand nicht statt.“

Vielleicht verwandelt sich auch die Niederlage des gelernten Buchhändlers Martin Schulz im Laufe der nächsten Monate in einen krachenden Sieg? Wahrscheinlich ist das allerdings  nicht: Und dann gälte immer noch die Einsicht des hochpatenten Ex-Reichslanzlers Gustav Stresemann aus den zwanziger Jahren: „Aus gloriosen Siegen läßt sich noch weniger lernen als aus schmerzlichen Niederlagen.“