© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn

Friedliche Koexistenz beginnt in der Gastwirtschaft. So meint Künstler M., mit Blick auf das vom Russen betriebene Café, dieses sei der sowjetische Sektor, das nebenan – wo die beste Soul- und Popmusik läuft – der amerikanische. Dem Wirt dort gefällt diese Einteilung. Als ich ihm von den ebenso brutalen wie bescheuerten Wrestling-Kämpfen letzte Nacht im Fernsehen berichte, erwidert er kopfschüttelnd, das sei „echt krank“. Als ich ihm kalauernd vorschlage, stattdessen „Trump“ zu sagen, stellt sich heraus, daß er genau das gerade getan hatte. Nach anfänglichen Sympathien hat der US-Präsident beim Publikum beider Cafés inzwischen jegliche Gunst eingebüßt. Allerdings werden im „amerikanischen Sektor“ weiterhin die Widerstandskräfte gegen die Political Correctness trainiert. Neuestes Beispiel: Ein Gast bestellt im Restaurant statt eines Schnitzels ein Steak. Darauf der Kellner: „Sinti oder Roma?“


Die mehrfache, unglaublich jung gebliebene Mutter, die im „sowjetischen Sektor“ hinter der Theke steht, schwärmt angesichts des bevorstehenden Kirchentages vom Religionsunterricht ihrer Söhne. Der Lehrer mache genau das, was eigentlich Lebenskunde leisten sollte: „Er geht mit den Kindern in die Synagoge, in die Moschee, in die Kirche und in ein buddhistisches Kloster, und – was ich besonders gut finde – er erklärt den Kindern, daß die Bibel ein Märchen ist.“ Der Kirchentag selbst entfaltet in der Stadt eine frohgestimmte Atmosphäre. Ein Optimismus und eine Sanftmut, die mich an den in den siebziger Jahren entstandenen Kanon „Herr, gib uns deinen Frieden“ erinnert. Alles andere als friedlich ist jedoch die Stimmung in der Sophienkirche in Berlin-Mitte bei der „Zentrumsreihe Streitzeit“ des Evangelischen Kirchentages, der unter der Losung „Du siehst mich“ (1. Buch Mose, Kapitel 16, Vers 13) steht. Nach Ende der Diskussion „Christen in der AfD?“ stürmt ein junger Aktivist auf die Kanzel und schreit Unverständliches in den Raum, einzige Botschaft ist das über den Kanzelrand hängende T-Shirt mit dem Motto: „Kein Mensch ist illegal.“ – Ich denk bei mir: Kein Mensch ganz halal. 


Also: „Versuchen wir, die Dinge ins rechte Licht zu rücken.“ So räsoniert eine Figur in dem weniger absurden als vielmehr bedrückenden Ionesco-Stück „Nashörner“ (JF 19/17) mit Samuel Finzi und Wolfram Koch in den Hauptrollen, in einem Gastspiel am Deutschen Theater. Über den letzten Menschen Behringer, der nicht mit der Zeit geht, sollte es heißen: Wer zu spät kommt, der behält das Leben.