© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/17 / 02. Juni 2017

Wir und die anderen
Jenseits der Critical Whiteness: Wolfgang Reinhards „Geschichte der europäischen Expansion“ hat das Prädikat Handbuch verdient
Peter Seidel

Europäer waren immer eine Minderheit auf der Welt. Doch diese Minderheit hat sich die Welt unterworfen. Denn sie haben als einzige den modernen Staat geschaffen, das Instrument ihres Erfolgs. Private Organisationen wie die Hanse oder Privatunternehmer wie die Fugger hatten da keine Chance. Dies gilt erst recht für die kolonialisierte Welt. Wie diese Kolonialisierung geschah, warum und inwieweit, davon handelt das neue Werk von Wolfgang Reinhard „Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015“. 

Reinhard ist emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Universität Freiburg und das, was man früher als einen Mann von universaler Bildung bezeichnete. Dieser Universalhistoriker hat mit seiner Weltgeschichte aus bewußt eurozentrischer Sicht ein monumentales Werk geschaffen, das sich nicht scheut, linke wie rechte Klischees sarkastisch zurechtzurücken und uns einen gut erzählten, teilweise spannenden, mit vielen aktuellen Bezügen versehenen Überblick zu geben über die historisch gewachsene heutige Welt.  

Auf knapp 1.700 Seiten und in 24 Kapiteln schlägt Reinhard den Bogen europäischer Expansion in der Welt, beginnend nach Abschluß der iberischen Reconquista mit dem Ausgreifen Portugals und Spaniens in der Welt und endend mit dem Ausblick auf die Dominanz der USA, dem „legitimen Kind Europas“, in der heutigen globalisierten Welt. Vielleicht wäre als Ende des Untersuchungszeitraums besser die Suez-Krise 1956 anzusetzen, der Kulminationspunkt der aus „imperial overstretch“ geborenen Entkolonialisierung und Abdankung der damals letzten europäischen Großmächte. 

Das Buch besticht als reich gefüllte Fundgrube enzyklopädischen Wissens und gelungene Verbindung von Ereignis- und Strukturgeschichte, ohne dabei die Bedeutung historischer Einzelpersönlichkeiten, der „Abenteurer“ und Initiatoren weitergehenden Ausgreifens, zu übergehen. Aktuelle wissenschaftliche Kontroversen werden kurz und sachlich vorgestellt. Beeindruckend die zahlreichen, vom Autor erstellten Karten sowie die vielen Abbildungen, gerade auch zur so wichtigen Entwicklung in Schiffbau oder Navigation. Das detaillierte Orts- und Personenregister ist eine wertvolle Ergänzung eines Werkes, das durchaus auch Handbuchcharakter aufweist.

Untaten der Kolonialpolitik werden nicht beschönigt

Vor allem aber hebt Reinhard zu Recht auf die Ursachen der jahrhundertelangen europäischen Dominanz ab, wenn er „die Grundlagen der neuzeitlichen europäischen Expansion“ in einem eigenen, ersten Kapitel beleuchtet, denn die Frage nach dem „Warum“ des europäischen Erfolgs ist auch die Kernfrage dieses Buches. Sie mündet zu Recht in die in den letzten beiden Kapiteln behandelte Frage, ob es sich bei der europäischen Globalisierung um eine „Vergangenheit ohne Zukunft?“ handele, die allerdings mit der historischen Methode allein offensichtlich nur unzureichend beantwortet werden kann. 

Am Anfang der europäischen Expansion stand Ceuta, die erste Eroberung der Portugiesen im Jahre 1415. Das Motiv war wie so häufig am Beginn epochaler Entwicklungen banal: „der Wunsch nach einem Marinestützpunkt auf der Gegenküste zum Schutz des eigenen und des italienischen Handels einerseits, zum Seeraub bei der muslimischen Konkurrenz andererseits.“ Hinzu kam „die Absicht, eine Basis für die Durchdringung und eventuelle spätere Eroberung Marokkos zu schaffen ...“ Heute ist Ceuta eine spanische Exklave, belagert von Afrikanern, die nach Europa wollen und dafür nicht vor Gewalt zurückschrecken, Vorboten einer Völkerwanderung, die an die Tore Europas klopft. Eines Europas, das unfähig scheint, Enklaven entweder durch ein Glacis zu schützen oder aufzugeben. 

Ein älteres Beispiel aus Deutschland: die in den achtziger Jahren mit Unterstützung des SED-Regimes in DKP-Postillen erstmals auftauchende These vom deutschen „Völkermord“ beim Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika vor dem Ersten Weltkrieg, die heute wie selbstverständlich auch von Bild oder der Süddeutschen Zeitung verbreitet wird. Sie fragen, ob der „deutsche Kolonialismus“ von „systematischem Rassismus“ geprägt war und betonen eine „Pflicht zu einer umfänglichen Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen“, bejubeln „die große Chance der gegenwärtigen Aufarbeitungsdebatte“. Bei Reinhard heißt es dazu nur lakonisch: „In Deutschland (...) soll auch in dieser Hinsicht zur nationalen Scham erzogen werden – allerdings nur, soweit keine finanziellen Wiedergutmachungsforderungen anfallen wie in Namibia.“ Merke: Nicht jedes koloniale Kriegsverbrechen ist gleich ein „Völkermord“! 

Reinhard schildert die europäische Unterwerfung der Welt ohne Beschönigung ihrer Untaten, so beim britischen Giftgaseinsatz gegen irakische Dörfer nach dem Ersten Weltkrieg, aber durchaus selbstbewußt, gerade auch in Erkenntnis des eben auch Geleisteten, wie etwa der Abschaffung der Sklaverei in Afrika, die dort wie bei den Indianern Nordamerikas lange vor dem Eintreffen der ersten Europäer üblich war. Er ist damit auch seinem eigenen Anspruch eines „bekennenden Schmalspuranarchisten“ treu geblieben, der gern wider den Stachel löckt, ohne dabei die wissenschaftliche Seriosität auf dem Altar der Emotionalisierung zu opfern. Ein Anarchist, der differenzierter berichtet als so mancher Moralist.

Um so unverständlicher wirkt vor diesem Hintergrund die Behauptung, man überlasse die Weltgeschichte „besser den freischaffenden Verfassern dessen, was im Deutschen mit einer gewissen Herablassung vom Fachbuch als Sachbuch unterschieden wird, oder gar unerschrockenen Kompilatoren“. „Weltgeschichte“ oder „Globalgeschichte“ habe „etwas Vulgäres und Großspuriges“ (Jan Osterhammel, 2017). Nun, wer an die letzten Jahreskongresse von Historikern denkt, der fragt sich, ob Apologetik, Belanglosigkeiten und fehlender Realitätsbezug nicht schlimmer sind. Gerade in einer multilateraler werdenden Welt wird die Fähigkeit zur Synthese auch bei der Sekundärliteratur immer notwendiger. Der Verzicht auf kritische Information der Öffentlichkeit führt zum Glasperlenspiel im Elfenbeinturm. Und überläßt den Propagandisten die öffentliche Arena!

Das Buch erscheint in einer Zeit, die nicht nur realpolitisch, sondern auch ideenpolitisch Europa vor neue Herausforderungen stellt, die in den immer stärker multikulturell geprägten USA ihren Ausgang nahmen. Bestes Beispiel: die Vorgänge an britischen Universitäten, wo naturalisierte Studenten und Dozenten aus der Dritten Welt, insbesondere an der London School of African and Asian Studies, zum Angriff auf die von Europäern dominierten Geisteswissenschaften blasen. Bei ihrer unter der Prämisse der Critical Whiteness (JF 10/17) propagierten Darstellung geht es längst nicht mehr nur um das Schleifen von Standbildern wie dem des berühmt-berüchtigten britischen Imperialisten Cecil Rhodes, hier geht es darum, „weiße Wissenschaftler“ aus dem Lehrplan zu entfernen und durch Autoren aus ihren Heimatländern zu ersetzen. Die Stichwörter dieser „Gesinnungswächter“ mit ihrem „pädagogischen Umerziehungsfuror“ lauten „geistige Entkolonialisierung“ und Befreiung von der „rassistischen Aufklärung“.  

Das klingt abstrus, doch der Einfluß solcher Minderheiten auf die gesellschaftliche Mehrheit wächst. Sie treiben Mehrheiten vor sich her wie einst die Europäer die Eingeborenen in der Welt, und das auch in Politik und Medien. Und sie dominieren zusammen mit linken Einflußgruppen nicht zuletzt die Islamdebatte. Hier sind es dann leider oft nur noch islamische Bürgerrechtler, die  „erschütternde und überraschende Berichte über religiösen Fundamentalismus (...) und eben doch die klarste, unmißverständlichste Islamkritik hervorgebracht“ haben. 

Kein Wunder, daß die (übrigens linke) Algerierin Wassyla Tamzali bereits vor Jahren angesichts dieses Einknickens und Kleinredens ihren „Offenen Brief an die ihr Selbstbewußtsein verlierenden Europäer“ schrieb (FAZ, 13. Januar 2017). Einheimische Kollaborateure hat es immer gegeben. Doch auch die europäischen Weltkriegsieger und einstigen Kolonialmächte gehen heute vielfach „in Sack und Asche“. Das muß nicht sein, wie Wolfgang Reinhard zeigt.

Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015. C. H. Beck, München 2016, gebunden, 1.648 Seiten, Abbildungen, 58 Euro