© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Soziale Gerechtigkeit
Dauergruß des Murmeltiers
Peter Kuntze

Als die Bundesregierung im Frühjahr ihren 5. Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlichte, war die Aufregung groß: Laut amtlicher Datenbasis, so der Bericht, verfügen in Deutschland die reichsten zehn Prozent der Haushalte über mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens, die unteren fünfzig Prozent nur über ein Prozent. „Unfaßbar ungerecht!“ empörte sich die Juso-Chefin Johanna Uekermann. Nahezu sämtliche Medien griffen den vermeintlichen Skandal sofort auf und ließen Experten erörtern, wie sich die Kluft zwischen Arm und Reich schließen lasse. Die Frage der „sozialen Gerechtigkeit“, forderte nicht nur die Juso-Chefin, müsse jetzt das bestimmende Wahlkampfthema werden.

Wer die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der 1949 gegründeten Bundesrepublik seit ihrem Bestehen verfolgt hat, konnte angesichts jenes polit-medialen „Hypes“ nur die Augen zur Zimmerdecke kehren. Einmal mehr nämlich fühlte man sich an die Hollywood-Komödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ von 1993 erinnert, deren Held in einer Zeitschleife festsitzt und stets ein und denselben Tag erleben muß. In unserem Fall ist es die periodisch wiederkehrende Darlegung der Vermögensverhältnisse in Deutschland, deren eklatante Ungleichheit seit nunmehr fast siebzig Jahren konstant ist.

Im Jahr 1968 ermittelten die Professoren Wilhelm Krelle, Johann Schunck und Jürgen Siebke im Auftrag der Bundesregierung, ausgehend von 1950, für das Jahr 1960, daß „17,6 Mio. Haushalten, das sind 98,3 Prozent aller Haushalte in der Bundesrepublik, nur jeweils 30 Prozent, das heißt weniger als ein Drittel des Betriebs- und Kapitalvermögens, gehörten“. Die übrigen 305.000 oder 1,7 Prozent aller Haushalte, denen gut ein Drittel des Gesamtvermögens gehörte, besaßen dem „Krelle-Report“ zufolge jeweils 70 Prozent des Betriebs- und Kapitalvermögens. Auf weniger als ein Prozent aller Haushalte entfielen mehr als ein Viertel des Betriebs- und 43,2 Prozent des gesamten privaten Kapitalvermögens.

An diesen Daten, und das ist eine der Lebenslügen der Republik, hat sich im Lauf der Zeit wenig geändert. So schrieb die Süddeutsche Zeitung 1971, die Konzentration des Eigentums an gewerblichen Unternehmen bestehe weiter unabgeschwächt. Auf 1,7 Prozent der privaten Haushalte in Westdeutschland seien am Stichtag 1. Januar 1966 bereits mehr als 74 Prozent des Produktivvermögens entfallen. Und 1975 konstatierte das Blatt: „Trotz aller Lohnsteigerungen hat sich die Vermögensverteilung nicht wesentlich verschoben. Dies liegt daran, daß die Inflation stets an den hohen Nominallohnsteigerungen zehrte, während sie die Besitzer von im Wert stark gestiegenem Produktivvermögen und Grundbesitz begünstigte.“

„Und täglich grüßt das Murmeltier“, deren Held stets ein und denselben Tag erleben muß. In unserem Fall ist es die periodisch wiederkehrende Darlegung der Vermögensverhältnisse, deren eklatante Ungleichheit seit nunmehr fast siebzig Jahren konstant ist. 

Und heute? 42 Jahre später schlug die Süddeutsche angesichts der zunehmenden Ungleichheit vor, alle Bürger zu Miteigentümern der Unternehmen zu machen. Dann seien alle direkt an der Wertschöpfung der Maschinen beteiligt. Gegenwärtig, so ihr Leitartikler im Februar 2017, halte nur jeder zehnte Deutsche Aktien; bleibe das so, dürfte die Ungleichheit explodieren. „Alle Bürger als Kapitalisten“ propagierte er statt dessen. Erneut ließ das Murmeltier grüßen, denn bereits im März 1973 hatte die Süddeutsche ihren Lesern jene vermeintliche Lösung des Problems präsentiert: „Das kapitalistische System kann die Zukunft nur gewinnen, wenn es sich zum echten Volkskapitalismus mausert.“ Der CDU-Politiker Rainer Barzel hatte zuvor das scheinbar Unvereinbare auf die prägnante Formel gebracht: „Jeder Arbeiter ist Unternehmer; alles andere ist von gestern.“

Wegen des Ost-West-Konflikts und der aufgrund der Teilung im eigenen Land existierenden Systemkonkurrenz befanden sich die Verfechter der Marktwirtschaft damals in großen Legitimationsnöten. Schließlich hatte Karl Marx die private Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Mehrwerts und die Konzentration des so erzeugten Kapitals in den Händen weniger gegeißelt. Wenn er von Eigentum sprach, war stets das Privateigentum an den Produktionsmitteln (Fabriken, Grund und Boden etc.) gemeint – jenes Eigentum, das gemäß der marxistischen Ausbeutungs- und Akkumulationstheorie neue Werte schafft und durch konzentrierte ökonomische Macht letztlich sogar die Staatsgewalt usurpiert. Eigengenutzte Immobilien, Autos, Fernsehapparate, Waschmaschinen etc. gehören demgegenüber nicht in diese Kategorie, denn sie stellen keine gesellschaftliche Macht dar, sondern sind vergängliche Waren, die keine neuen Werte schaffen.

Ganz offensichtlich unterschätzte seinerzeit das Handelsblatt die Relevanz der Marxschen Argumentation, wenn es 1971 behauptete: „Die Bedeutung des Produktionsvermögens ist, wenn es nicht funktional, sondern eigentumspolitisch betrachtet wird, eine Fiktion. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum ein Arbeiter nicht mit Eigenheim, Auto und Farbfernseher glücklicher sein soll als mit dem Stück Schornstein eines Stahlwerks.“ Der Bankrott des sowjetischen Sozialismus-Modells mit seiner katastrophalen Mangelwirtschaft hat dem Handelsblatt im nachhinein recht gegeben. Doch damals, in den siebziger Jahren, verstärkte das Dreigestirn der Altparteien CDU, SPD und FDP im Zusammenspiel mit Arbeitgebern und Gewerkschaften – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Studentenbewegung – seine Bemühungen, die Akzeptanz für den als „soziale Marktwirtschaft“ etikettierten Kapitalismus zu erhöhen.

Die Richtung gab 1973 die Grundsatzkommission der CDU vor. Ganz unverblümt setzte sie auf den psychologischen Faktor, indem sie erklärte: „Eine Bewältigung sozialer Spannungen ist möglich, wenn die Arbeitenden den Produktionsprozeß ihres Unternehmens und der ganzen Volkswirtschaft als ihre eigene Sache verstehen. Das ist zu erreichen, wenn sie auf die wirtschaftlichen Entscheidungen Einfluß nehmen können und am Ertrag Anteil haben. Mitbestimmung, Gewinnbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer sind die freiheitliche Alternative zu Klassenkampf und Staatswirtschaft.“

Bei diesen Ankündigungen ist es im wesentlichen geblieben. Außer in der Montanindustrie kann in keinem Aufsichtsrat der großen Unternehmen von einer Parität zwischen Kapital und Arbeit die Rede sein, so daß sich die Mitbestimmung in engen Grenzen hält; eine Umverteilung des Zuwachses des Produktivvermögens ist nie über das Planungsstadium hinausgekommen, und ein nennenswertes Vermögen – ob mit betrieblicher oder staatlicher Hilfe – hat damals wie heute kein Arbeitnehmer bilden können.

Wenn Vertreter der ehemaligen Bonner Parteien erneut das Klagelied von der sozialen Ungerechtigkeit anstimmen, müssen sie daher gewärtigen, der Heuchelei geziehen zu werden, schließlich hatten sie fast sieben Jahrzehnte lang Gelegenheit gehabt, dem Übel abzuhelfen.

Nur mit jenen bislang versäumten oder nur halbherzig umgesetzten Strukturreformen lassen sich Wohlstand und damit Akzeptanz erreichen, denn zum Kapitalismus gibt es im Grunde keine realistische Alternative. Nicht nur vor der Folie des jämmerlichen DDR-Sozialismus, der als „Arbeiter- und Bauernparadies“ kaum mehr als Schrott und Ruinen hinterlassen hat, war das westdeutsche Konkurrenzunternehmen – kombiniert mit einem begrenzten, die Eigenverantwortung aktivierenden Sozialstaat – eine grandiose Erfolgsgeschichte. Grundlage war eine vom Staat damals maßvoll eingehegte, ansonsten aber freie Wirtschaft, die freilich die ewige Dialektik von Freiheit und Gleichheit in Gang gesetzt hat: Je freier eine Gesellschaft ist, je mehr Möglichkeiten sie dem einzelnen gibt, seine je unterschiedlichen Begabungen zu entfalten, desto ungleicher wird sie. Umgekehrt haben die gescheiterten Menschenexperimente des Sozialismus gezeigt, daß die Gesellschaft desto unfreier wird, zu je größerer Gleichheit ihre Bürger gezwungen werden.

Da alle Menschen aufgrund ihrer genetischen und sozialen Herkunft ungleich in ihren Fähigkeiten und Leistungen sind, ergeben sich daraus Eliten und führen letztlich zu einer Hierarchisierung, ohne die es keine Vorgesetzten und Untergebenen gäbe. 

Dieses zwangsläufige Dilemma hatte Goethe angesichts der Französischen Revolution vorausgesehen und gewarnt: „Gesetzgeber und Revolutionäre, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatane.“ Da alle Menschen aufgrund ihrer genetischen und sozialen Herkunft ungleich in ihren Fähigkeiten und Leistungen sind, ergeben sich daraus Eliten und führen letztlich zu einer gesellschaftlichen Hierarchisierung, ohne die es keine Vorgesetzten und Untergebenen, keine Dirigenten, Chefredakteure oder Kapitäne von Fußballmannschaften gäbe.

Man sollte meinen, derartige Feststellungen seien eine Selbstverständlichkeit, doch nicht nur Vulgärmaterialisten bestreiten die natürliche Ungleichheit. Auch die Sozialwissenschaften, besonders die Pädagogik, blenden seit Jahrzehnten alles aus, was ihr unrealistisches Menschenbild erschüttern könnte. Dabei haben nicht einmal die Begründer des Marxismus die natürliche Ungleichheit bestritten – im Gegenteil: Sie kämpften für die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, um so zumindest eine soziale Gleichheit herbeizuführen, weil sie hofften, in einer derartigen Gesellschaft sei es möglich, daß die schicksalhafte, weil angeborene Ungleichheit keine neuen Herrschaftsverhältnisse mehr zwischen den Menschen entstehen lassen werde.

In der ersten Etappe ihres Gesellschaftsmodells plädierten Marx und Engels für das Verteilungsprinzip gemäß der Leistung („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“). Doch da es im Sozialismus nicht über eine „ungerechte Gleichheit“ hinausgehe, da nur an einem einzigen Maßstab, nämlich der Arbeit, gemessen werde, müsse es durch das Bedürfnisprinzip ersetzt werden. Erst dieses Prinzip („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“) werde in der Utopie der kommunistischen Gesellschaft eine „gerechte Ungleichheit“ begründen, der zufolge jeder – unabhängig von seiner Leistung – nach Gusto am genossenschaftlichen Überfluß partizipieren könne.

Der eingangs zitierte Hollywood-Film endet mit der Läuterung des Helden. In der Zeitschleife des Murmeltier-Grußes lassen indes jene das Publikum verharren, die unter sozialer Gerechtigkeit stets das Neidprinzip „Allen das Gleiche“ verstehen und nicht das der Individualität des Menschen gemäße Motto „Jedem das Seine“. Da auch nicht zu erwarten ist, daß die von Karl Marx prognostizierte Überflußgesellschaft jemals Wirklichkeit wird, dürfte der utopische Traum noch vielen Generationen den Gruß des Murmeltiers bescheren.






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Niedergang des Linksliberalismus („Trump und die Folgen“, JF 7/17).#

Foto: Kapital und Arbeit: Die Verteilung des Produktivkapitals ist über all die Jahrzehnte nahezu gleich geblieben