© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Auf halber Strecke hängengeblieben
Zwei Journalisten stellen jüdische „Displaced Persons“ vor, die nach 1945 auf dem Weg nach Amerika oder Palästina in Deutschland blieben
Matthias Bäkermann

Spätestens 1944, als zwischen Finnland und dem Schwarzen Meer immer noch Millionen Soldaten, die auf Hitler und Stalin eingeschworen waren, zäh gegeneinander kämpften, deutete sich beinahe für jedermann in Europa an, daß die Niederlage des Deutschen Reiches nur eine Frage der Zeit und die jeweilige Herrschaft über den eroberten Raum alle zukünftigen Fragen diktieren sollte. Wo genau die Wasserscheide zwischen den tonangebenden Siegern, den US-Amerikanern und den Sowjets, genau liegen sollte, wußten nur die Diplomaten von Casablanca und Jalta. Für alle anderen galt, für ihre persönliche Zukunft das kleinere Übel anzusteuern.

Das galt kurioserweise nicht nur für die besiegten Wehrmachtssoldaten, die nach der Kapitulation 1945 nach Westen strömten, sondern auch für die von Stalins Roter Armee Befreiten in der östlichen „Bloodlands“-Todeszone Europas, die einen Neustart ins Leben ersehnten. Die jüdische Familie Waks, die das Ghetto von Lodz überlebte und 1946 in die Obhut der Amerikaner nach Hessen floh, ist dafür ein gutes Beispiel.

Den Weg von Aron und Leas Waks verfolgend, erzählen die Journalisten Hans-Peter Föhrding und Heinz Verfürth unter dem ebenso reißerischen wie ahistorischen Titel „Als die Juden nach Deutschland flohen“ ein fast typisches Schicksal der „Displaced Persons“ der Nachkriegszeit. Sie hausten wochen-, monate- und teilweise auch jahrelang in früheren Baracken von Kriegsgefangenen zwischen Emden und Passau, da die Heimat an Memel, Bug und Dnjestr, wie es sie vor ihrer Deportation, dem Wüten der mörderischen SS-Einsatzgruppen und der Vernichtungswalze der Fronten gegeben hatte, verloren war. Der Antisemitismus, der auch im Polen der Nachkriegszeit seine häßliche Fratze zeigte – im Juli 1946 gab es im galizischen Kielce einen Pogrom mit Dutzenden Todesopfern –, machte auch die letzten Hoffnungen auf eine weitere Existenz im Lande der Vorväter zunichte. Für die meisten Juden gab es zwei Optionen: die eines mühseligen Aufbruchs ins „gelobte Land“ nach Palästina oder den verheißungsvollen Gang durch die Schleuse von Ellis Island in Sichtweite der New Yorker Freiheitsstatue, um in Amerika mit der Hoffnung auf den „highest standard of living“ einen Platz zu finden. Eine kleine Schar dieser jüdischen DPs, und darauf fixieren sich Föhrding und Verfürth, blieb tatsächlich in der späteren Bundesrepublik hängen, laut der kollektivschuldbewußten Autoren dem „Land der Täter“. Die lange herrschende Ungewißheit über ihr endgültiges Ziel erschwerte den Neubeginn beträchtlich.

Von einer „Flucht nach Deutschland“ kann trotzdem keine Rede sein, die osteuropäischen Juden hofften nur, mit Hilfe der Alliierten in den westlichen Besatzungszonen nach Amerika oder Australien zu gelangen, um dort eine neue Existenz aufzubauen. Das galt im wesentlichen auch für die Masse der anderen DPs.

Immerhin irrten 1945 5,8 Millionen heimatlose Ausländer im ehemaligen Deutschen Reich umher. Fast anderthalb Millionen von ihnen sträubten sich gegen eine Repatriierung. Vor allem Polen und Balten wollten überall hin, um nicht unter der Knute Stalins leben zu müssen. Eine Zukunft mit der Aussicht auf Trümmerräumung und Lebensmittelkarte im besiegten Deutschland versprach aber allenfalls die zweitschlechteste Aussicht.

Hans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth: Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, gebunden, 346 Seiten, 24 Euro