© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Das schlechte Gewissen Europas
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Instrument gesellschaftspolitischer Maßregelung
Friederike Hoffman-Klein

In vielen europäischen Staaten gibt es Gesetze, die darauf abzielen, bestimmte Meinungsäußerungen zu verbieten. In Deutschland ist es unter anderem auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aus dem Jahr 2006, das Meinungsäußerungen mit diskriminierendem Inhalt verbietet. 

Dabei ist das Recht der freien Meinungsäußerung nicht nur in unserer Verfassung garantiert, sondern ist wesentlicher Bestandteil aller Kodifikationen auf dem Gebiet der Menschenrechte. Auf europäischer Ebene ist es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg, dem die Rolle des Schutzes der Menschenrechte zugewiesen ist. Der Gerichtshof der 47 Mitglieder des Europarats kann als eine der wichtigsten Menschenrechtsinstitutionen angesehen werden. Seine Urteile werden weltweit zitiert und in den Staaten des Europarats umgesetzt. Der Gerichtshof versteht sich als „Gewissen Europas“. Ist diese Selbstbezeichnung des Gerichtshofs gerechtfertigt? 

„The Conscience of Europe?“, so lautet auch der Titel eines jetzt von ADF International, einer Organisation, die sich weltweit für Religions- und Meinungsfreiheit einsetzt, herausgegebenen Bandes, der für so verschiedene Bereiche wie Abtreibung, Euthanasie, medizinisch unterstützte Fortpflanzung, Leihmutterschaft, gleichgeschlechtliche „Ehe“, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, religiöse Symbole und Elternrechte die Frage untersucht, ob der EGMR seinem Anspruch gerecht wird. 

Mit dem Vorwurf, die Kirche stachele wegen ihrer Positionen zu Homosexualität und Frauen zum Haß auf, hat sich die linkspopulistische spanische Partei Podemos gegen Gottesdienst-übertragungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gewandt. Dieses Beispiel ist Ausdruck einer Haltung, die politisch mißliebige Meinungen als diskriminierend einstuft und als „Haßrede“ untersagt. Dabei wird allerdings auf den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen der Meinungsäußerung und einer unmittelbaren Auswirkung dieser Meinung, etwa in Form von Gewalt gegenüber Minderheiten, verzichtet.

Maßstäbe der Konvention sind zeitgeistabhängig

Ein weiteres Beispiel: Darf ein Konditor ablehnen, eine Hochzeitstorte für ein homosexuelles Paar zu backen, weil dies seinem Gewissen widerspricht? Der Gedanke der Antidiskriminierung ist zu einem Begriff geworden, den man gebraucht, um mißliebige Meinungen auszuschalten. Antidiskriminierung stellt sich damit als ein Eingriff in Freiheitsrechte dar: Berufsfreiheit, Vertragsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religions- und Gewissensfreiheit. Die eine Freiheit wird zugunsten der anderen verdrängt. Liberalismus schlägt um in neuen Dogmatismus.

Meinung wird als „Hate Speech“ kriminalisiert. Aber was ist Hate Speech konkret? Das Problem: Es gibt keine exakte Definition. Es kann vieles darunter gefaßt werden. Aber kann man etwas kriminalisieren, das zu einem großen Teil subjektiver Einschätzung überlassen ist? Das verstößt gegen den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Auch gesetzestreue, unbescholtene Bürger können mit den hate speech laws in Konflikt geraten. So hat eine britische Studie ergeben, daß die meisten Fälle von Hate Speech nicht von Radikalen oder Extremisten verübt werden, sondern von politisch unauffälligen Bürgern.

Die Auffassungen über Ehe, Fortpflanzung, Euthanasie und Abtreibung sind nicht mehr so einheitlich wie noch vor einem halben Jahrhundert. Während manche Staaten die Ehe bewahren wollen, geht es anderen darum, sie neu zu definieren. Die Aufgabe des EGMR ist deshalb schwierig. Er könnte, wie er dies jahrelang getan hat, sie darin sehen, den Kernbereich des rechtlichen Schutzes der Menschenrechte zu gewährleisten und den Staaten im übrigen einen weiten Beurteilungsspielraum zuzugestehen. In jüngster Zeit ist der Gerichtshof jedoch immer mehr dazu übergegangen, sich aktiv an der Durchsetzung säkularer Werte zu beteiligen. 

Seit den siebziger Jahren vertritt der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) eine „dynamische Interpretation der Konvention“. Diese wird als „living instrument“ gesehen („ein lebendiges Instrument, das im Lichte heutiger Bedingungen gesehen werden muß“). Das bedeutet, daß die Maßstäbe der Konvention nicht ein für allmal festgelegt sind, sie sind nicht statisch, sondern vielmehr dazu bestimmt, den sozialen Wandel widerzuspiegeln. Dieser Ansatz enthält die Forderung nach einer Auslegung der Konvention, welche den gesellschaftlichen Änderungen, die sich auf den Gebieten der Moral, der Mentalität, der Gesetzgebung ereignet haben, Rechnung trägt.

Politische Auslegung von Meinungsäußerungen

Warum ist die Bekämpfung und Kriminalisierung der Haßrede problematisch? Gesetze zum Verbot von Hate Speech verlangen die inhaltliche Bewertung bestimmter Meinungsäußerungen. Sie verwenden unbestimmte Rechtsbegriffe, die im Sinne der jeweiligen politischen Anschauung weit ausgelegt werden können. Dies hat Rechtsunsicherheit und vermehrte Rechtsstreitigkeiten zur Folge. Und es führt dazu, daß sensible oder möglicherweise anstößige Themen vermieden werden. Unterschiedliche Meinungen auch zu kontroversen Themen sind jedoch für eine liberale, demokratische Gesellschaft konstitutiv. 

Der Straßburger Gerichtshof hat auf die herausragende Bedeutung hingewiesen, die der freien Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, und auf die Anforderungen, die sich diesbezüglich aus den Geboten des Pluralismus, der Toleranz und einer aufgeschlossenen Haltung ergeben. Diese Anforderungen dürfen nicht in dem Bestreben, bestimmten politischen Interessen vermeintlich zu dienen, aufgehoben werden.

Robert Clarke: The „Conscience of Europe?“ Navigating Shifting Tides at the European Court of Human Rights. Kairos Verlag, Wien 2017, gebunden, 190 Seiten, 19,99 Euro