© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/17 / 09. Juni 2017

Begleiter über Jahrhunderte
Fortbewegung: Vor 200 Jahren erfand Karl von Drais mit seiner „Draisine“ das Fahrrad
Verena Rosenkranz

Drahtesel, Alugurke, Laufrad, Velo, Bici, Radl oder eben Fahrrad. Mit den amüsantesten Begriffen wird das zweirädrige Fortbewegungsmittel auf der ganzen Welt umschrieben. Der hierzulande gängige Ausdruck „Fahrrad“ geht zwar auf den Zusammenschluß deutscher Radfahrervereine 1884 zurück. Doch zum 200jährigen Jubiläum des einspurigen Sportgerätes kommt der Rückblick einer Zeitreise durch die europäische Geschichte gleich. Als sich der hohe Adel ein Stelldichein gab, Geliebte geheime Ausflüge machten, der Industriearbeiter seinen Dienst antrat, übermütige Kinder ihre Wettrennen abhielten oder junge Männer in den Krieg zogen – das Fahrrad war überall dabei und hat vieles erlebt.

Bereits in der Antike waren sogenannte „Muskelkraftwagen“ bekannt, die durch die Beine angetrieben wurden, aber nur schwer zu lenkende beinahe starre Reifen hatten. Dementsprechend folgte zunächst eine Weiterentwicklung der metallischen oder hölzernen Räder. Die heutigen Fahrräder entstanden schließlich aus der „Draisine“. Als Karl von Drais am 12. Juni 1817 in Mannheim seine als Alternative zum Reitpferd entwickelte Laufmaschine zur Jungfernfahrt bewegte, war auch die Idee des Fahrrades geboren. 

Einen regelrechten Boom löste die Erfindung vor allem in England, Frankreich und Südwestdeutschland aus. Dort gab es damals bereits ein dichtes Netz von Landstraßen auf denen sich wesentlich ungefährlicher als auf städtischem Kopftsteinplaster dahinrollen ließ. Aber nicht nur zum Vergnügen, auch für beschwerliche Arbeiten mußte das Zweirad herhalten. 1850 fertigte ein Schmied schließlich das Schubstockrad mit einer Lastfläche, gefolgt vom Tretkurbelrad 1853 mit Pedalen am Vorderrad. Jenes Modell wurde erstmals in einer größeren Stückzahl unter der Bezeichnung „Michauline“ produziert. Mit einem Gesamtgewicht von 25 Kilo, einem Stahlrahmen und Holzreifen war es allerdings noch weit entfernt vom heutigen Komfort.

Beispiel europäischen  Erfindergeistes 

Wenig später folgte zwar ein leichteres, aber nicht weniger kompliziertes Modell. Das „Ariel-Hochrad“ löste die schweren Zweiräder ab, die Bevölkerung mußte sich dafür jedoch im Klettern üben. Mit einem Durchmesser von 125 Zentimetern am Vorderrad und lediglich 35 Zentimetern am Hinterrad konnte man rund um 1871 die waghalsigsten Fahrmanöver beobachten. Durch die so erreichte Geschwindigkeit kam es jedoch zu relativ schweren Stürzen, und der Aufprall aus der Höhe führte zum Überdenken jener Modelle. Das wesentlich sicherere Niederrad, im englischen bezeichnenderweise auch „Safety bicycle“, setzte sich schließlich durch. 

Der Durchbruch des kettenbetriebenen Hinterrades mit nahezu gleich großen Reifen gelang 1885 schließlich John Kemp Starley aus dem britischen Coventry. Zunächst beschränkte er sich auf den Bau von Dreirädern, expandierte jedoch unter dem Namen „Rover“ (Wanderer) bald mit seiner fortschrittlichen Konstruktion auf das Festland. Weil die gehobene Bevölkerung, die sich ein Fahrrad leisten konnte, noch auf das Hochrad fixiert war, wurde seine Erfindung als unsportlich abgetan. Er organisierte daraufhin ein Rennen mit dem neuen Gerät, gewann es und lieferte so den Prototypen des heutigen modernen Fahrrades. Obwohl es bereits zu Beginn der Karriere des „Drahtesels“ Versuche mit luftgefüllten Reifen gab, setzten sich erstaunlicherweise lange Zeit Holz-, Stahl-, oder Vollgummireifen durch. Erst durch die Wiedereinführung und Verbesserung durch John Dunlop im Jahr 1888 wurde das Rad mit preßluftgefüllten Reifen auch massentauglich und für die Arbeiterschicht erschwinglich. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es ein bedeutender Bestandteil der Industrialisierung, aber auch unverzichtbares Fortbewegungsmittel im Krieg, wodurch auch das österreichische Waffenrad und später das für Soldaten gängige Militärrad aufgrund seiner großen Robustheit immer beliebter wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Fahrrad oft das einzige Fortbewegungsmittel und damit äußerst kostbar. Erst ab 1960 wurde das Zweirad schließlich mehr und mehr in Ländern mit hohem Wohlstand vom Auto verdrängt. Bis heute bleibt es jedoch eines der beliebtesten und ökologischsten Fortbewegungs- und Verkehrsmittel weltweit. Was in Städten wie Amsterdam oder Münster deutlich wird, wo es mehr Fahrräder als Einwohner gibt. 72 Millionen Räder gibt es schätzungsweise in Deutschland. Die Weiterentwicklung ist damit längst nicht zu Ende: moderne Elekro-, Klapp-, Lasten- und Liegeräder variieren erneut das Erscheinungsbild. Maßanfertigungen, neue Materialien wie Carbon und Hypes wie sündhaft teure, individuell zusammengestellte „Fixie-Bikes“ – die neue urbane Variante des Eingangrads – verraten, daß das Fahrrad seine ganz besondere Bedeutung für viele Menschen nicht verloren hat. Jedes Kind dürfte immer noch große Augen machen, wenn es sein erstes Rad geschenkt bekommt – und dann noch einmal, wenn es heißt: „Jetzt ohne Stützräder.“

So simpel und doch so vielfältig: Ob Adels-Spielzeug, Arbeitsgerät oder Kindertraum – das Fahrrad als Luxusgut oder als Massenware hat zahlreiche Generationen begeistert und ihnen zu eigenständiger Mobilität verholfen