© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Rote Köpfe im Ministerium Schäuble
Verfassungsgericht stoppt Brennelementesteuer: Das Urteil offenbart unfreiwillig die politische Motivation der unzulässigen Abgabe
Markus Brandstetter

Der Engländer Thomas Hobbes (1588–1679) schreibt in seinem Werk „Leviathan“: „Auctoritas non veritas facit legem“ („Autorität, nicht Wahrheit schafft das Gesetz“). In einer modernen Demokratie denkt kein Mensch mehr so. Hobbes zählt zwar zu den größten Staatstheoretikern aller Zeiten, wird immer noch viel gelesen und zitiert, doch seine Rechtsphilosophie ist vordemokratisch. Alle moderne Staatsrechtstheorie geht davon aus, daß die Bürger Quelle der Gesetzgebung sind und nicht eine autoritäre Obrigkeit. Deshalb steht im Grundgesetz: Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, was auf lateinisch heißen würde: „Populus facit legem.“

Seltsam ist jedoch: Obwohl in einem Staat wie der Bundesrepublik nichts so klar zu sein scheint wie die Frage, wer in letzter Instanz die Gesetze macht, scheint sich genau auf diesem Gebiete seit Jahren eine Bewegung zurück in fast schon vordemokratische Zeiten anzudeuten – die einen immer öfter an den alten Hobbes denken läßt: Immer öfter werden Gesetze ohne jede Berücksichtigung der Bürger erlassen. 

Ein gutes Beispiel für diese legalistische Regression stellt die Kernbrennstoffsteuer – die man auch Brennelementesteuer nennt – dar. Eine Steuer, von der bis vor kurzem kaum ein Mensch wußte, die inzwischen aber ziemlich bekannt ist, weil das Bundesverfassungsgericht sie am 7. Juni in einer bemerkenswert unabhängigen Entscheidung gekippt hat – was im Ministerium Schäuble für einige extrem rote Köpfe sorgte. Aber fangen wir am Beginn an.

Keine fiskalische, sondern eine politische Steuer

Beantragt hat die Einführung der Steuer die SPD als Gegengesetz zur Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, welche der Bundestag 2010 mit schwarz-gelber Mehrheit beschloß. Die Kernbrennstoffsteuer war von Anfang an keine fiskalische, sondern eine rein politische Angelegenheit. Natürlich wollte der Finanzminister damit Geld schöpfen – und gewiß haben die Nachwirkungen der Finanzkrise von 2009, als niemand mit dem danach einsetzenden Wirtschaftsaufschwung rechnete, eine Rolle gespielt –, aber Geld war nie der vordringliche Zweck dieser Steuer, was einer der Gründe dafür sein mag, war­um man bei der Abfassung des Gesetzes amateurhaft und schludrig vorging. Nein, der wahre Grund für dieses Gesetz liegt darin, daß Grünen, Linken und der SPD Kernkraftwerke und ihre Betreiber ein maibaumgroßer Dorn im Auge sind. 

Wie immer in solchen Fällen war der Gedanke dahinter simpel: Wenn wir den Energiekonzernen die Kosten so erhöhen, daß sie mit ihren AKWs große Verluste machen, dann legen sie ihre Kraftwerke ganz von selber still. Wahrscheinlich hätten die AKW-Betreiber die Steuer bis zur Abschaltung ihrer Anlagen brav bezahlt, weil sie sich sagten: Das ist der Preis, den wir für die Laufzeitverlängerung bezahlen müssen.

Doch am 11. März 2011 schwappte ein Tsunami in den japanischen Reaktor von Fukushima Daiichi und Berlin beschloß in einem Salto mortale von hoher ideologischer Flexibilität, aus der Kernenergie auszusteigen. Die Energiekonzerne, die angenommen hatten, sie könnten sich mit der Brennelementesteuer von einer zunehmend grüneren Bundesrepublik den Ablaß ihrer Sünden erkaufen – parallel dazu die Zusatzkosten daraus still und heimlich auf die Bürger abwälzen –, ansonsten aber bis 2024 einigermaßen unbehelligt weiterwirtschaften, standen plötzlich vor einem Untergangsszenario. Bis 2022 mußten sie alle Kernkraftwerke abschalten, was Umsatzeinbußen und Nachlaufkosten in Milliardenhöhe bedeutete. Nur die Brennelementesteuer, die sie zähneknirschend akzeptiert hatten, sollten sie trotzdem weiterbezahlen.

Das muß der Moment gewesen sein, als der Krug einmal zu oft zum Brunnen gegangen war. Am 31. Mai 2011, vier Wochen bevor der Bundestag den Atomausstieg beschließen sollte, kündigte Eon als erster Energiekonzern eine Klage gegen die Brennelementesteuer an. 

Jetzt zeigte sich, daß das im Hause Schäuble schnell zusammengenagelte Gesetz nicht so durchdacht war, wie die Prädikatsjuristen des Finanzministeriums geglaubt hatten. Kaum auf den Weg gebracht, erklärte der Verfassungsrechtler Ulrich Battis in einem ZDF-Interview, die Bundesregierung habe in Sachen Brennelementesteuer „ganz schlechte Karten“, ganz einfach weil dem Bund „die Zuständigkeit zur Einführung einer solchen Steuer fehle“. 

Allerdings ist es alles andere als einfach, gegen ein einmal in Kraft getretenes Gesetz zu obsiegen, auch wenn man wie die Energiekonzerne über erstklassige Juristen und ein sattes Budget für deren saftige Honorare verfügt. Viele Klagen gegen Gesetze versanden nämlich im Lauf der Jahre zwischen unterschiedlichen Gerichten und Instanzen, insbesondere dann, wenn – wie bei der Kernbrennstoffsteuer – die Gesetzgebungskompetenz des Bundes bestritten und eine Partei auf Nichtigkeit eines Bundesgesetzes klagt. 

Im Bundesfinanzministerium war man vermutlich davon überzeugt, daß die Klage der Energieversorger sich ewig hinziehen, sie irgendwann aufgeben oder beim finalen Gang beim Bundesverfassungsgericht abgeschmettert würden. Und genauso sah es zu Anfang auch aus: Das Finanzgericht Hamburg hatte zwar Bedenken, weil die Brennelementesteuer keine Verbrauchsteuer sei und der Bund nicht einfach Steuern aus dünner Luft schöpfen dürfe, aber das Finanzgericht Baden-Württemberg nickte die Steuer gleich zweimal als verfassungsgemäß und europarechtskonform ab. Und der Europäische Gerichtshof, der seit jeher ein Herz für hohe Steuern, wenig Marktfreiheit und die Gängelung von Unternehmen hat, tat natürlich dasselbe. Wolfgang Schäuble, der zwar gerne von Steuersenkungen redet, aber nicht im Traum daran denkt, sie umzusetzen, konnte also durchaus auf einen endgültigen Sieg hoffen.

Doch genau da fuhr ihm das Bundesverfassungsgericht im letzten Moment in die Parade. Das urteilte nämlich, daß das Kernbrennstoffsteuergesetz mit dem Grundgesetz unvereinbar, deshalb nichtig und die bisher eingenommenen Steuern in Höhe von 6,3 Milliarden Euro – inklusive sechs Prozent Zinsen pro Jahr – an die Energieversorger zurückzuzahlen seien. Richtig peinlich für das Ministerium fiel die Begründung aus: „Außerhalb der durch das Grundgesetz vorgegebenen Kompetenzordnung haben Bund und Länder kein Steuererfindungsrecht.“ Und weiter: „Da sich die Kernbrennstoffsteuer nicht dem Typus der Verbrauchsteuer im Sinne des Artikel 106 Grundgesetz zuordnen läßt, fehlte dem Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz für den Erlaß des Kernbrennstoffsteuergesetzes.“

Ein juristischer Tadel als komische Pointe

Brennstäbe aus Uran, schreibt Karlsruhe dem Finanzminister ins Stammbuch, sind eben nicht Kaffee, Bier, Schaumwein oder Tabak, weil sie erstens nicht von Privatmenschen verbraucht werden und zweitens die Besteuerung reiner Produktionsmittel einer Verbrauchssteuer wesensfremd ist. 

Hier steckt der Knackpunkt, ohne den die Energieversorger dieses extra für (beziehungsweise gegen) sie geschaffene Gesetz nie zu Fall gebracht hätten: Eine Verbrauchsteuer muß den privaten Verbrauchern eines Gutes auferlegt werden (oft mit dem Hintergedanken, deren Konsum durch eine Verteuerung des Angebotes zu lenken), aber sie darf nicht einfach handstreichartig einem Produzenten aufgebürdet werden, mit der durchsichtigen Rechtfertigung, der Bund brauche eben mehr Geld. 

Die Karlsruher Richter sagen außerdem, daß die Notwendigkeit einer verläßlichen Finanz- und Haushaltsplanung des Bundes dazu führen könnte, von einer rückwirkenden Nichtigerklärung des Gesetztes abzusehen – aber nur dann, wenn die Regierung nicht fest mit den Zuflüssen aus der Brennelementesteuer gerechnet hätte. Und genau das hätte sie von vornherein nicht tun dürfen, weil die Rechtmäßigkeit der Brennelementesteuer von Anfang an in Zweifel stand. 

Übersetzt heißt das: Die Regierung kann keinen Haushalt mit Steuern planen, deren Rechtmäßigkeit nicht hundertprozentig klar ist. Tut sie es doch, muß sie die zu Unrecht erhobenen Milliardensteuern eben wieder zurückzahlen.

Finanzminister Schäuble muß nun im laufenden Haushalt irgendwo sechseinhalb Milliarden Euro finden, was nicht so schwer sein wird, da die Steuereinnahmen sprudeln – ihm allerdings seine ohnehin schwach ausgeprägte Lust auf Steuersenkungen gänzlich nehmen wird. 

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Trauerspiel um die Kernbrennstoffsteuer mit seinem offenen Tadel des Finanzministers zum Abschluß eine gewisse komische Note verpaßt, die für die Bürger jedoch zutiefst befriedigend sein dürfte. Nachdem die Karlsruher Richter die Griechenlandkredite und das Aussetzen der Dublin-III-Verordnung in der Flüchtlingskrise ohne viel Federlesens für Recht erklärt haben und das Bundesverfassungsgericht der Regierung bei fast allen wichtigen Entscheidungen Carte blanche erteilt hat, ist es ebenso überraschend wie angenehm, nun zu beobachten, daß die Bundesrepublik also doch noch nicht zu einem autoritären Staat, wie Hobbes ihn sich vorstellte, geworden ist. Noch können Gesetze nicht allein kraft Autorität der Regierung erlassen werden. Populus facit legem: die Staatsgewalt geht vom Volke aus – nach wie vor.