© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Auf den Geist kommt es an
Preußisches Bildungsideal: Zum 250. Geburtstag des Gelehrten Wilhelm von Humboldt
Eberhard Straub

Die von 1828 bis 1945 nach ihrem Gründer benannte Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin heißt heute nach den beiden Humboldt, die nie Professor waren. Die Brüder Alexander von Humboldt und Wilhelm von Humboldt verkörpern allerdings idealtypisch die Einheit der Wissenschaften, von der heute nicht einmal mehr an Festtagen die Rede ist.

Immerhin entwickelte Wilhelm von Humboldt, vor 250 Jahren am 22. Juni 1767 geboren, zusammen mit dem Theologen Friedrich Daniel Schleiermacher und dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte eine neue Idee der Universität, an die heute nichts mehr – außer den Denkmälern für die Brüder vor der Universität – erinnert. Als  Bildungsreformer überlebte Wilhelm von Humboldt vage im Gedächtnis. Seine Bildungsidee betraf freilich nicht den Professor als akademischen Laufbahnbeamten, sie galt vielmehr dem tätigen Mann im öffentlichen Leben. Bei dem kommt es auf das Tun, und nicht so sehr auf die Tat an, auf den sittlichen Geist, der zum Tun antreibt und diesem erst seine Würde verleiht. 

Wilhelm von Humboldt stammte aus dem Beamtenadel. Der Vater war früh gestorben, seine Mutter, eine Hugenottin, dachte bei der Ausbildung ihrer beiden Söhne an den Staatsdienst, nicht an die Wissenschaft. Für reiche Talente und große Begabungen, die sich in erstaunlicher Zahl im Berlin des späten 18. Jahrhunderts tummelten, rückte freilich der Staat vorerst in den Hintergrund. Philosophische Weltbilder und mit ihm im Zusammenhang eine neue lebendige Kunst und Wissenschaft beschäftigte die jungen Leute, Beamtensöhne, Junker und soziale Aufsteiger wie Fichte bei weitem mehr. Im Mittelpunkt des als Staatskaserne oft geschmähten Preußen wetteiferten die unterschiedlichsten Gruppen in der Absicht, ein neues Athen an der Spree zu gründen. Keine suchte in Isolation und Einseitigkeit ihren Zweck, sondern in allseitiger Aneignung des Besonderen, um zu einem großen, begeisternden Ganzen zu gelangen. Wilhelm von Humboldt sprach schon mit dreizehn fließend Altgriechisch und Lateinisch, Französisch ohnehin, bald auch Italienisch, Spanisch, Englisch und Russisch. 

Er näherte sich historisch-philologisch der vorbildlichen Antike an, dem Italien der Renaissance, aber nahm auch lebhaften Anteil an der Befreiung vom französischen Geschmack, an der Weimarer Klassik und der aufkommenden Romantik. Nicht die Universität, sondern die Geselligkeit und der Austausch mit Freunden machten ihn heimisch im weiten Reich des Geistes, der Kunst und des Schönen. Nur die Musik und deren Geheimnisse blieben ihm ein Buch mit sieben Siegeln, Er war – erstaunlich für das damalige Berlin und Deutschland – vollkommen unmusikalisch, was seine Ausdrucksfähigkeit sehr einschränkte.

Der enthusiastische Schöngeist und Weltmann schrieb zu einer Zeit, in der selbst subalterne Beamte fast anmutige Gutachten über die Vorteile der Straßenbeleuchtung verfaßten, umständlich und unpersönlich. Man las ihn immer mit Gewinn, aber selten freudig angeregt. Reisend verbrachte er Jahre in Paris und Spanien, nach 1815 konnte er jahrelang als Gesandter in Rom sich der unerschöpflichen Poesie dieser Stadt, die Welten enthält, genießend und wissenschaftlich ernsthaft zuwenden. Wie sein Bruder Alexander erschloß er sich reisend Völker und Kulturen, auch in philologischen imaginären Weltreisen als vergleichender Sprachwissenschaftler. In jeder Sprache gibt sich der Weltgeist kund, in allen Sprachen zusammen offenbart sich der totale Weltgeist und ergibt sich ein wahres Bild der Welt und des Menschen in ihr. 

Der preußische Staat wollte nicht auf die Dienste dieses freien Geistes ohne Ausbildung und Examen verzichten. Jedes Talent wurde vor allem nach 1806 benötigt, nach der Niederlage gegen Napoleon, aber auch nach 1815, um das während der Besatzungszeit refor-mierte Preußen im Frieden vorsichtig weiter zu erneuern und für Stabilität 

des neuen Staates zu sorgen. Wilhelm von Humboldt war ein Preuße und von der Bestimmung Preußens überzeugt, 

als Großmacht in Deutschland für das von Schiller den Deutschen gewiesene Ziel unermüdlich zu wirken: in das Geisterreich zu dringen, Vorurteile zu besiegen. Deutsche Größe bestand für die beiden Freunde Friedrich von Schiller und Wilhelm von Humboldt darin, alles was schätzbar bei anderen Zeiten und Völkern war, aufzubewahren und zu hegen und zu pflegen. Deutsche sammeln die Ernte aller Zeiten und vollenden die Menschheit, die allgemeine, in ihrer Sonderform. Ihre Sprache wird zur einzig wahren Weltsprache, weil sich in ihr allein das jugendliche Griechische und das modern Ideelle ausdrücken läßt. 

„Was der Staat an materiellen Kräften verloren hat, muß er durch geistige Kraft ersetzen.“ Diese Devise gab Friedrich Wilhelm III. aus. Sie galt nicht nur für Bildung und Erziehung im engeren Sinn, sondern dem gesamten Staat und sämtlichen Staatsbürgern.  Zu dem Staat der Aufklärer, der wie eine Maschine funktionieren sollte, gehörte der Mensch als Maschine mit bestimmten eingeübten Fertigkeiten und Kompetenzen. Universitäten wurden nur insoweit geschätzt, als sie sich als Kaufhaus und Rathaus des Tages mit seinen Bedürfnissen nützlich machen konnten. Die praxisbezogene Dressur im Interesse der Wirtschaft oder der Verwaltung schuf Berufsmenschen, die nur an ihre Laufbahn und Verdienste in Form des Gehaltes dachten. Als Schlachtopfer des Fleißes lernten sie, sich zu fügen, sich in Prozesse einzupassen und nie vom Dienstweg abzuweichen.

Mit dem Zusammenbruch Preußens erwies sich das weltfremde Allotria des aufgeklärten Nützlichkeitsfanatismus als unbrauchbar, ja als katastrophal. Dem alten Staat hatte es an selbständigen, also freien Menschen gefehlt. Denn jeder wurde nur beurteilt nach dem, was er treibt, aber nicht danach, wie er das, was er treibt, behandelt. Ein neuer Geist sollte jetzt hingegen dabei helfen, die öde in sich schwingende Routine zu überwinden und jeden dazu befähigen, zur Freiheit im Staate als einer Freiheitsordnung zu gelangen. 

Gerade die preußischen Reformer der Universität sahen in Übereinstimmung mit den allgemeinen Reformen Bildungsreform, Sozialreform und staatlichen Umbau als eine große gemeinsame Bewegung. Die sittliche Ausbildung des Menschen konnte sich nach ihren Vorstellungen nur im Staat vollenden, an welchem Platz auch immer. Deshalb verwarfen sie berufsbezogene Ausbildung. Zum Vorteil freiheitlicher Entwicklung erschien es ihnen bekömmlicher, Studenten während einiger Jahre im freien Reich der Theorie und des historisch-philosophischen Geistes festzuhalten. Das hielten sie für praktisch. Denn aus dem Unpraktischen ergäben sich aufgrund systematisch geschulter Phantasie die besten Wirkungen für die Praxis. Auf geistige Beweglichkeit ist der Praktiker angewiesen, will er nicht als lebensfremder Schulfuchs den übrigen Bürgern lästig fallen.

Damals ließen sich die Bildungsreformer um Wilhelm von Humboldt nicht durch Ökonomen und Parteipolitiker in solcher Vorstellung beirren. Weil der Beruf ohnehin jeden beschränkt und in Grenzen verweist, soll der Schüler und Student nicht von vornherein zu einseitiger Spezialisierung gedrängt werden. Das Leben ist vielseitig, und Humanisierung bedeutet, mit der Mannigfaltigkeit, mit dem Leben schlechthin, vertraut zu werden, um nicht, wie alle ungebildeten Pedanten, vor dieser Lebenslust zu erschrecken, sofort bemüht, sie Regeln und Vorschriften zu unterwerfen.

Die preußische Regierung schuf auf dem Verwaltungswege mit Beamten, die der Allmacht der Bürokraten mehr mißtrauten als dem Staat, die Grundlagen für eine freie Entwicklung in der Gesellschaft, die den meisten vorerst noch ungewohnt war. Eine freie Gesellschaft im freien Staat bedurfte der Schulen und Bildungseinrichtungen, die in den Gebrauch der Freiheit einüben. Gerade deshalb wurde von der Volksschule über das Gymnasium bis zur Universität diesen staatlichen Anstalten zu freier Selbstbildung eine solche Beachtung geschenkt. Das gesamte Schul- und Bildungswesen begriffen Wilhelm von Humboldt und die Regierung als einen großen Zusammenhang. Sie betrachteten ja das gesamte Reformwerk im Staate als Einheit sich ergänzender Bestrebungen, um Bürgern – und möglichst jeder sollte jetzt Bürger im Staate werden – die Aussicht zu eröffnen, sich selbständig zu bewähren und darin seinen sittlichen Beruf zu vollenden. Nicht Arbeit, Bildung macht frei.

Das war die Hoffnung der Humanisten, auch unter den Offizieren und Beamten, vor allem auch die Hoffnung preußischer Könige. Denn Bildung erst versetzt den Menschen in die Lage, sich zum Menschen zu formen und zu erziehen. Seine Humanisierung ist nicht sein Recht, sondern geradezu seine Pflicht, um zu seiner Freiheit zu gelangen und sie vernünftig gemeinsam mit anderen Vernünftigen und frei Gewordenen zu gebrauchen.

Von dieser hochgemuten Idee ist heute nicht mehr viel übriggeblieben. Die Universitäten sollen wieder zu geistlosen Anstalten für Berufskunden werden. Aus ihnen gehen jedoch höchstens erschlaffte Maschinen mit prall gefülltem Gedächtnis hervor, unfähig die Welt zu begreifen.