© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn

Im winzigen Café des „sowjetischen Sektors“, wo sich oft zwei Parteien den Tisch teilen müssen, kommt es mir immer häufiger vor, als befände ich mich in einer Daily Soap. Nicht nur das immergleiche Figurensemble, das sich hier täglich ein Stelldichein gibt, erweckt diesen Eindruck. Ebenso verläßlich ist die in einer Endlosschleife laufende, immergleiche Musik: entweder das repetitive Klavierspiel von Konstantin Scherbakov oder die einzigartig enervierende Larmoyanz der barmenden, wimmernden und jammernden Eunuchenstimme von Antony and the Johnsons. Zugleich wirkt das hier mitwirkende Personal wie geschaffen für das ungeschriebene Exposé, tun sich doch regelmäßig – je näher man sich kommt – um so größere Differenzen, ja Abgründe auf. So wird das Café bevorzugt von der – von David Goodhart definierten – Spezies der „Anywheres“ aufgesucht. Diese, so der britische Publizist, repräsentieren zwar eine Minderheit, geben aber in Politik, Medien und Gesellschaft den Ton an. Sie sind besser gebildet, verdienen mehr, sind in modernen Berufen tätig und global vernetzt. Sie schätzen die Freiheit und Autonomie. Dabei mache sie ihre „transportable Identität“ blind gegenüber den eigenen Privilegien und damit auch gegenüber dem Personenkreis der lokal verwurzelten „Somewheres“, die dem schnellen Wandel, der Massenmigration und der Globalisierung wenig abgewinnen, da diese Faktoren ihr Leben eher verschlechtert haben.


Beispielhaft für die „Anywheres“ ist der Mann an meinem Tisch, dem ich – nach seufzender Lektüre – den „Süddeutschen Beobachter“ (Michael Klonvosky) rüberreiche. Über Umwege kommen wir auf das Thema „Flüchtlinge“ zu sprechen. Im moralisierenden Ton macht er sich mit den „Flüchtlingen“ gemein: Das sei ja wirklich nicht leicht für die Leute, sich hier anzupassen, da habe er jedes Verständnis. Er selbst habe ein knappes Jahrzehnt im Ausland gelebt und hätte hier solche Schwierigkeiten gehabt, sich wieder einzuleben. Jedenfalls, das wird unversehens deutlich, ist das Boot noch längst nicht voll, denn: „Freunde von mir haben gerade ein Schiff organisiert und sind damit auf dem Mittelmeer unterwegs – die sammeln dort die Menschen ein.“ Leider sagt er nicht: „und bringen sie auch hier her“. Den im eigenen Auftrag nach Europa geschleusten „Schutzbefohlenen“ bei sich selbst Unterkunft zu gewähren, kommt den „Anywheres“ vermutlich nicht in den Sinn. Dafür läuft nebenan im Café des „amerikanischen Sektors“ der Klassiker der Pet Shop Boys „It’s A Sin“.