© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Gespräche mit der Macht
Wie man seine Tode überleben kann: Julian Barnes Musiker-Roman über Dmitri Schostakowitsch
Jens Knorr

Im Mai 1937 steht Nacht für Nacht ein Mann mit gepacktem Koffer vor dem Fahrstuhl im fünften Stock eines Mietshauses. Er wartet auf seine Verhaftung, deren Anblick er Frau und Kindern ersparen will. Der Mann ist der russisch-sowjetische Komponist Dmitri Schostakowitsch, die Szene in voneinander abweichenden Versionen überliefert. So oder so ähnlich könnte sie sich abgespielt haben, wie andere Szenen aus Schostakowitschs Leben auch.

Die „Memoiren des Dmitri Schostakowitsch“ (Originaltitel: „Testimony: The Memoirs of Shostakovich“), die der in den Westen emigrierte sowjetische Musikwissenschaftler Solomon Wolkow 1979 veröffentlichte, markieren eine Wende in der Rezeption von Leben und Werk des bis dahin in Ost und West mit diametralen Untertönen als „Staatskomponist“ Etikettierten.

Auch wenn es sich bei Wolkows Buch um ein „Apokryph“ (Krzysztof Meyer) handeln dürfte, bestätigten nachfolgende Veröffentlichungen die Authentizität von Schostakowitschs Aussagen. Zu nennen wären die Briefe an Isaak Glikman, vom Empfänger 1993 herausgegeben und umfassend kommentiert (dt.: „Chaos statt Musik? Briefe an einen Freund“, 1995), Elizabeth Wilsons auf Erinnerungen von Zeitgenossen fußende Monographie „Shostakovich: A Life Remembered“ (1994, überarb. Ausg. 2006) und Michael Ardovs Interviews mit den Kindern und Freunden des Komponisten „Memories of Shostakovich“ (2004), letztere beide Bücher noch nicht ins Deutsche übersetzt.

Doch auf widerlegte alte Legenden haben sich neue um den „heimlichen Dissidenten“ geschichtet. Das Leben hat sich vor das Werk gedrängt und wurde zum Paradigma für das Verhältnis von Kunst und Diktatur, Künstler und Diktator im 20. Jahrhundert erhoben. Davon zehrt Julian Barnes’ Roman „The Noise of Time“ („Der Lärm der Zeit“).

An drei Daten handelt Barnes Schostakowitschs Bestehen und Versagen ab: 1936, 1948 und 1960, drei Jahresdaten seiner Traurigkeiten, jedes Jahr ein Schaltjahr, alle zwölf Jahre eine Konfrontation mit Stalin, dessen Exekutoren und Erbfolgern. In drei Kapiteln begegnet Schostakowitsch sich selbst „Auf der Treppe“, „Im Flugzeug“, „Im Auto“  – immer „Unterwegs“, wie der Titel eines dazumal vielgespielten Jugendstücks von Viktor Rosow heißt.

Am 26. Januar 1936 besucht Stalin eine Aufführung der seit zwei Jahren erfolgreich laufenden Oper „Lady Macbeth des Mzensker Landkreises“, verläßt sie nach dem Zwischenspiel, das den Koitus der Kaufmannsfrau mit dem Arbeiter orchestral ausmalt, und vor dem Schlußakt, der die Groteske in die Tragödie hebt. Am 28. Januar erscheint der berüchtigte Artikel „Chaos statt Musik“ in der Prawda, ohne Signatur, die (Mit-)Autorschaft Stalins wird vermutet, ist aber nicht belegt. Er löst die erste große Hetzjagd auf den Komponisten aus, Verwandte werden deportiert, Schostakowitsch wird in der Lubjanka, der Geheimdienstzentrale, von Offizieren des NKWD verhört. Schostakowitsch erwartet seine Verhaftung und Exekution.

Am 5. Januar 1948 besucht Stalin eine Aufführung von Muradelis Oper „Die große Freundschaft“. Dieses an sich völlig nichtige Stück gibt willkommenen Anlaß zu einem Beschluß des ZK der KPdSU, der eine „antiformalistische“ Kampagne einleitet, die insbesondere auf Prokofjew und Schostakowitsch abzielt. Eine Beendigung des folgenden Boykotts seiner Werke erpreßt Stalin mit Schostakowitschs Teilnahme an einer Delegation zum Weltkongreß zur Verteidigung des Friedens, der im März 1949 in den USA stattfindet. Stalins Anruf bei Schostakowitsch, das zweite Gespräch des Komponisten mit der Macht, ist verbürgt. Als Repräsentant sowjetischer Musik wird Schostakowitsch in New York gefeiert, von den US-Behörden schikaniert, von dem treuen US-amerikanischen Staatsbürger Igor Strawinski gemieden und von dem Musiker und Journalisten Nicolas Nabokov vorgeführt und gedemütigt.

Leben und Werk gegeneinanderhalten

Im Jahre 1960 wird Schostakowitsch auf Initiative Chruschtschows zum Vorsitzenden des Verbands der Komponisten der RSFSR ernannt, dem Druck der Politbürokraten, in die Kommunistische Partei einzutreten, vermag er nicht standzuhalten. Das ist sein drittes Gespräch mit der Macht, eigentlich sind es mehrere Gespräche. Was ist des Kaisers, und was ist Gottes? Inwieweit darf oder muß sich der Künstler selbst zum Opfer bringen oder aber das Opfer verweigern, um sein Werk zu retten? „Das Werk will heraus, es fragt nicht nach den Kosten“, schreibt der Aphoristiker Hans Pfitzner. Julian Barnes fragt nach den Kosten, er fragt nicht nach dem Werk.

Barnes gibt vor, aus der Perspektive seines Protagonisten zu erzählen, doch immer dort, wo die Quellen schweigen, spricht der Erzähler mit dem Mund Schostakowitschs, läßt er eigene Gedanken, die er gern von Schostakowitsch gedacht hätte, seinen Schostakowitsch denken. Der westlich sozialisierte Literat räsoniert im Körper des russisch-sowjetischen Komponisten, als hätte der nur den einen.

Der reale Schostakowitsch war sich seiner Rolle als Jurodiwyi, als „Gottesnarr“, wohl bewußt. Unter Zuhilfenahme dieser Figur hat Wolkow in einem zweiten Buch über die Beziehung zwischen „Shostakovich and Stalin“ (2004, dt.: „Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und sein Künstler“, 2006) die Psychologie des Komponisten weit tiefer als Barnes ausloten können. Die Figur kommt bei Barnes nicht vor.

Der reale Schostakowitsch hat gelernt, zwischen der ihm zugedachten öffentlichen Funktion und seinem inneren Auftrag zu unterscheiden. Er gibt den einen Körper preis, um den anderen zu retten. Daß und wie der unsterbliche Körper des Künstlers von dem sterblichen verschieden ist und ihm doch verhaftet bleibt, zeigen offizielle und private Bilder und Filmaufnahmen des späten Schostakowitsch, in dessen Physiognomie sich die Erfahrung des Terrors tief eingegraben hat. Man muß die Bilder gegeneinanderhalten. Man muß Leben und Werk gegeneinanderhalten.

Barnes läßt einen unschuldigen, passiven, apolitischen Mann, der eigentlich immer nur Musik schreiben will – und zwar eine, die rein vom Lärm der Zeit, einfach nur Musik wäre, eine Musik, die nur der Musik gehöre –, in die Mühlen „der Macht“, „der Diktatur“, „des Apparats“ usw. geraten. Die Zeiten des Großen Terrors, des Tauwetters, des Spät- und Poststalinismus lärmen ihm alle gleich.

In jeder Note macht er sich mit den Opfern gemein

Dabei hätte Barnes in Schostakowitschs Musik „das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist“, lesen können. Denn hier, in der Musik, findet Schostakowitschs beharrliches Gespräch mit der und sein Sieg über die Macht statt, wiewohl in den Tod verschlungen. Hier flüstert Geschichte nicht nur, sondern ist dem Lärm der Zeit abgerungen. Hier tönen russisch-orthodoxes und sozialistisches Christentum in harmonischer Kakophonie zusammen, überwintert Hoffnung im Kitsch, gehen Stalin und Hitler untergehakt ins „Maxim“. Hier singt der Formalist dem sozialistischen Realismus Schdanowscher Prägung die eigene Melodie vor, macht der Parteigenosse der nachholenden Modernisierungsdiktatur östlicher Prägung die Schlußrechnung auf – und sich in keiner Note mit den Henkern gemein, in jeder Note mit den Opfern, ohne die einen von den andern politisch korrekt zu selektieren. Wann immer Schostakowitsch ein Requiem auf sich selbst schreibt, „gequält von schwerer Gefangenschaft“, so schreibt er ein Requiem auf eine Idee. Die Flaschenpost war dem russisch-sowjetischen Hörer nicht versiegelt.

Wer spricht, wenn keine Musik da ist, wo Musik sein müßte? Schostakowitsch oder Barnes, der Biograph oder der Romancier, der landläufige Narrative ungeprüft übernimmt? Einige wenige sachliche Fehler irritieren.

Auch wenn Barnes den verwendeten Quellen lediglich das Kleid des psychologischen Romans übergestreift hat, mit einem an den historischen Schostakowitsch angelehnten Schmerzensmann als Protagonisten, die Dreiheit der Kapitel durch einen symbolisch-allegorischen Rahmen verklammert, so kann er einen ersten Zugang zu Leben und Werk eröffnen. Es bleiben jedoch weitere.

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, gebunden,256 Seiten, 20 Euro