© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Generation sticht Sozialisation
Der Nachweis, daß menschliche Intelligenz weitgehend von genetischen Faktoren abhängt, ist durch eine aktuelle Forschungsarbeit erhärtet worden
Lukas Mihr

Ein internationales Forscherteam unter Führung der Genetikerin Danielle Posthuma von der Universität Amsterdam hat vierzig neue Intelligenzgene entdeckt. Die Wissenschaftler hatten im menschlichen Erbgut 52 Gene identifizieren können, die mit besonderen geistigen Fähigkeiten einhergingen – zwölf davon waren bereits in vorherigen Studien gefunden worden.

Auch wenn die jüngste Entdeckung einer Sensation gleichkommt, war in der Wissenschaft schon länger bekannt, daß Intelligenz genetisch bedingt ist. Dies zeigten Zwillings- und Adoptionsstudien. Eineiige Zwillinge (EZ) sind genetisch weitgehend identisch, während zweieiige Zwillinge (ZZ) und reguläre Geschwister nur die Hälfte ihres Erbguts teilen. EZ sind sich in ihren IQ-Werten im Durchschnitt am ähnlichsten, gefolgt von ZZ und von Geschwistern. Daß gewöhnliche Geschwister und ZZ bei gleichem Verwandtschaftsgrad nicht gleich große Übereinstimmungen in ihren IQ-Werten zeigen, bedeutet, daß auch der Verlauf der Schwangerschaft die Intelligenz bestimmt. In Adoptionsstudien konnte gezeigt werden, daß Kinder ihren biologischen Eltern von den IQ-Werten her mehr ähnelten als ihren sozialen Eltern. Dies galt auch für Kinder, die direkt nach der Geburt adoptiert wurden und daher keine Sozialisation durch ihre biologischen Eltern erfuhren.

Entkräftete Theorie von sozial erworbener Intelligenz

In den siebziger Jahren wurde die Debatte über die Erblichkeit von Intelligenz (nature vs. nurture) erbittert geführt. Vor allem die marxistischen Wissenschaftler Richard Lewontin, Steven Rose, und Leon Kamin führten in ihrem Werk „Not in Our Genes“ Argumente ins Feld, daß eben doch die Erziehung und nicht Erbanlagen den meisten Einfluß auf die Entwicklung des Menschen hätten. In einzelnen Fällen konnten sie dem Nature-Lager Fehler, Ungenauigkeiten oder Lücken nachweisen, daß seine Theorien dementsprechend nachbessern mußte. Die marxistische Doktrin, laut der alle Menschen gleich und beliebig durch Erziehung und Staat formbar seien und die Gene keinerlei Einfluß hätten, verlor jedoch mehr und mehr an Boden. 

Spätestens seit den Forschungen von Bouchard und McGue zu Beginn der achtziger Jahre setzte sich in der Fachwissenschaft der Konsens durch, daß der IQ durch Erbfaktoren maßgeblich bestimmt ist. Nach zahlreichen weiteren Studien mit Zehntausenden Versuchsteilnehmern in mehreren Ländern und über mehrere Jahrzehnte hinweg stand als Ergebnis fest: Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten können je nach Lebensalter zu etwa 50 bis 80 Prozent über genetische Faktoren erklärt werden und nur der Rest über Umweltfaktoren. Die jüngst entdeckten Gene erklären allein etwa fünf Prozent der Intelligenzunterschiede zwischen Menschen. Grundlage der Studie war eine Versuchsgruppe mit rund 80.000 Teilnehmern, die sich sowohl einem IQ-Test als auch einer Genanalyse unterzogen hatten. Mit statistischen Methoden wurde bestimmt, ob bestimmte Gene häufiger oder seltener in den oberen bzw. unteren Intelligenzbereichen auftraten und ob sie einen Einfluß auf die Gehirnentwicklung hatten. Die entdeckten Gene tangieren nicht nur die Intelligenz, sondern sind auch positiv mit der Abkehr vom Rauchen oder Autismus assoziiert. Gleichzeitig verringerten sie die Chance, an Alzheimer, Depression oder Schizophrenie zu erkranken. 

Eine erste Studie des britischen Psychologen Robert Plomin mit 7.000 Teilnehmern hatte vor 25 Jahren sechs Gene identifiziert, die allerdings nur ein Prozent der Intelligenzunterschiede erklären konnten. Danach kam es zu einem jahrelangen Stillstand, der nur wenige Erkenntnisse brachte. Ernüchterung machte sich breit. Daß es jetzt doch zum großen Durchbruch kam, liegt hauptsächlich daran, daß die Kosten für die Sequenzierung eines einzelnen menschlichen Genoms (vor allem durch Fortschritte in der Computertechnik) deutlich gesunken sind. Daher lassen sich größere Studien zu niedrigeren Kosten durchführen.

Schon jetzt läßt sich sagen, daß Intelligenz von sehr vielen Genen abhängt. Wenn 50 Gene nur fünf Prozent der Intelligenzunterschiede erklären, kann das einzelne Gen nur den Bruchteil eines IQ-Punkts ausmachen. Beim statistischen Ansatz lassen sich vor allem die Abschnitte im Erbgut finden, die eine besonders hohe Effektstärke haben – im Heuhaufen läßt sich ein Nagel eben eher als eine Nadel finden. Die meisten Intelligenzgene dürften einen sehr viel schwächeren Einfluß haben als die aktuell entdeckten – ihre Gesamtzahl könnte also deutlich über tausend liegen.

Derzeit werden die nächsten vielversprechenden Studien vorbereitet. In den USA soll eine größere Versuchsgruppe das gewünschte Ergebnis erzielen, während China hofft, den gleichen Effekt mit einer kleineren Stichprobe, die aus besonders intelligenten Versuchspersonen besteht, zu erreichen. Von einer praktischen Anwendung der jüngsten Erkenntnisse ist die Wissenschaft noch zwanzig, eher dreißig Jahre entfernt. Bis dahin könnte das linke Gleichheitsdogma allerdings schweren Schaden nehmen.