© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Geheimes Einverständnis
Sieferle-Debatte: Der Fall verdeutlicht die Anpassung des konservativen Feuilletons
Karlheinz Weißmann

Der „Fall Sieferle“ zieht Kreise. Die Skandalisierung der Tatsache, daß jemand eines seiner postum erschienenen Werke auf die Sachbuchbestenliste von Süddeutscher Zeitung und NDR gesetzt hat, läuft munter weiter, erreichte das Netz, Fernsehen, Rundfunk und sogar die internationale Presse. Abgesehen von den paar nonkonformen Medien ist die Bewertung einhellig, das heißt einhellig negativ. Keine etablierte Zeitung hat sich den Luxus einer anderen Auffassung erlaubt, kein Meinungsmacher auch nur angedeutet, daß er dieser Art von Konsens mißtraut, niemand gewagt, das zu wiederholen, was der – mittlerweile zurückgetretene – Juror sagte: daß die Thesen Sieferles diskussionswürdig seien.

Diese Thesen betreffen die Dekadenz des Westens, auch im Hinblick auf die Schwäche biologischer Vitalität, die Vergangenheitsbewältigung und den deutschen Selbsthaß. Die Art, wie Rolf Peter Sieferle sie angeht und Schlußfolgerungen zieht, muß in der Gegenwart als Tabubruch und mithin empörend wirken. Das hat seine Ursache darin, daß die Tabus, die gebrochen werden, Geltung haben, weil sie Tabus und altehrwürdig sind.

Errichtet wurden sie im Lauf der letzten fünfzig Jahre. Was erklärt, warum ihre Wächter sie so entschlossen verteidigen. Denn das ist ihre Pfründe, die zum Teil schon in der zweiten oder dritten Generation verwaltet wird. Zu verdanken haben sie die der linken Kulturrevolution, die so gern ihre Rationalität und Vorurteilslosigkeit ins Feld führte, aber immer von der Idee besessen war, die Machtübernahme dadurch vorzubereiten und abzusichern, daß man den Menschen vorschrieb, was sie zu denken und was sie zu äußern hatten, umgekehrt, was nicht zu denken und nicht zu äußern war.

Seit den siebziger Jahren gilt deshalb ein Anthropologieverbot, das betrifft, was die natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz angeht (Genetik, alles, was mit der biologischen Differenz der Geschlechter, der Rassen etc. zu tun hat), seither sind die Massenmorde der Linken etwas grundsätzlich anderes als die der Rechten, seither hat man „Auschwitz“ als „Gründungsmythos der Bundesrepublik“ (Joseph „Joschka“ Fischer) zu akzeptieren und sich gefälligst über die Wurzellosigkeit „postnationaler“ (Jürgen Habermas) Existenz zu freuen.

Wie jede Errichtung einer kulturellen Hegemonie war auch diese eine mühsame Angelegenheit. Man mußte Widerstände überwinden. Manche rührten einfach aus der Trägheit des Altgewohnten, manche speisten sich aus der Abwehrbereitschaft jener Kräfte, die immer noch über ein gewisses Machtpotential verfügten. Aber irgendwann war das aufgezehrt. Damit kam die Stunde der Appeaser und der Saboteure, die im bürgerlichen Lager ungehindert ihre Tätigkeit entfalten konnten.

Wer das zur Kenntnis nimmt, versteht auch die Rolle der Frankfurter Allgemeinen im gegenwärtigen Konflikt um das Buch Sieferles „Finis Germania“. Denn die Bereitschaft, den Anstoß der taz nicht nur aufzunehmen, sondern auszuweiten, ist kein Zufall. Man kann zur Deutung auf die „progressive“ Schlagseite des Feuilletons hinweisen, und tatsächlich gibt es erstaunliche Kontinuitäten, wenn die FAZ weiland einem hochbegabten „Stalinisten“ (Eduard Beaucamp) Asyl gewährte und heute einem wirrköpfigen „Leninisten“ (Dietmar Dath).


Aber das allein erklärt den Kurs des Leitorgans der Mitte nicht. Dazu ist noch ein Blick auf dessen Stellungnahmen in den großen intellektuellen Debatten der letzten Jahrzehnte nötig: die Wendung gegen Ernst Nolte im Historikerstreit (1986ff.), die rein defensive Haltung in bezug auf die Wertung des Zusammenbruchs von 1945 (1995ff.), das kampagnenartige Vorgehen gegen Thilo Sarrazin nach Erscheinen seines Buches „Deutschland schafft sich ab“ (2010) und jetzt die Polemik gegen Sieferle. Stück für Stück hat die Hellerhofstraße in Frankfurt am Main jenen moderaten Konservatismus liquidiert, der die Linie des Blattes bestimmte, und Vorstellungen Raum gegeben, die bis dahin entschlossen zurückgewiesen oder bekämpft worden waren.

Altersmilde der Herausgeber mag eine Rolle spielen, auch der anstehende Generationenwechsel oder ein diffuses Bemühen um mehr Akzeptanz in der Leserschaft. Aber im Kern geht es um Wichtigeres. Hier ist eine Grundsatzentscheidung gefallen. In deren Zentrum steht die Sicherung der eigenen Position durch das Arrangement mit den kulturellen Machthabern, die offenbar nicht mehr aus ihrer Position zu vertreiben sind. Ein aggiornamento, wie es nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern des westlichen Wohlstandsgürtels stattgefunden hat. Der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard (1929–2007) sprach von dem „gespenstischen geheimen Einverständnis“, das zwischen Linken und Etablierten herrscht. „Gespenstisch“, weil es darum geht, im Namen von Freiheit und Offenheit ein rigides System der Erfassung und Kontrolle zu etablieren, das sich mittlerweile bis in die letzte Redaktionsstube und das letzte Lektorat, den letzten Elfenbeinturm und das letzte Kollegium, die letzte Volkshochschule und das letzte Pfarrhaus erstreckt. „Geheim“, weil man nach wie vor einen Gegensatz simuliert, um die Basis bei der Stange zu halten.

Dem fehlt aber jede Substanz, weil keine Seite noch ernsthafte Überzeugungen hat, ganz gleich, welche Werte in der Sonntagsrede beschworen oder welche zivilreligiöse Monstranz herumgetragen wird. Was zusammenführt und zusammenhält ist lediglich die Front gegen den gemeinsamen Feind: das sind alle, die sagen, was ist. Rolf Peter Sieferle zum Beispiel.

»Was zusammenhält ist die Front gegen den gemeinsamen Feind: das sind alle, die sagen, was ist.«