© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Auf historischer Ebene
Nachruf II: Mit Helmut Kohl verstarb ein weiteres Stück der alten Bonner Republik
Paul Rosen

Vor ihm hatte man noch Respekt. Wenn Helmut Kohl einen Saal betrat, etwa den der Bundespressekonferenz in Bonn, war die Kraft des „Pfälzischen Riesen“ zu spüren, war klar, wer hier Koch und wer Kellner war. Zwar fehlte ihm die rhetorische Brillanz eines Franz Josef Strauß, aber er genoß so viel Vertrauen bei den Bundesbürgern, daß sie ihn (in Westdeutschland) mit Wahlergebnissen ausstatteten, die weit jenseits der heutigen Werte seiner Ziehkinder wie Angela Merkel liegen. Es ist klar: Mit dem Tode von Helmut Kohl ging nicht nur eine schon zu Lebzeiten historische Figur, sondern endgültig auch die deutsche Volkspartei alter Prägung, in der rauchende Patriarchen in Strickjacken den Ton angaben, die aber noch wußten, was den „kleinen Mann“ bewegte, Stimmungen spürten und nicht erst Meinungsforscher entsenden mußten, um herauszufinden, was draußen im Lande vorgeht.

Helmut Kohl war wie Helmut Schmidt und der früh verstorbene Strauß die Personifizierung der Bonner Republik, die ein enormes Meinungsspektrum aufwies und jahrzehntelang an den Rändern links und rechts nichts gedeihen ließ. Den starken rechten Flügel verkörperte der langjährige Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger mit seiner unionsinternen „Stahlhelm-Fraktion“. In der Mitte tummelte sich die FDP, der Übergang zu Helmut Schmidt war fließend, und Willy Brandt hielt als SPD-Vorsitzender seine große Hand schützend über alles, was links und noch linker war. Daß es links von der SPD heute zwei Parteien im Bundestag gibt und die CDU/CSU keine „Stahlhelmfraktion“ mehr hat, spricht Bände, wie sich die Verhältnisse in Deutschland verändert haben.

Im Gegensatz zu Strauß, der eine Mehrheit von zwei getrennt marschierenden Unionsparteien suchte und nicht an die Möglichkeit glaubte, die FDP aus dem Bündnis mit der SPD zu lösen, schlug Kohl genau diesen Weg ein, um Schmidt die Kanzlerschaft zu entreißen. Es gelang ihm, und Strauß („Kohl wird nie Kanzler. Er ist total unfähig“) stand düpiert da. Von Bonn wollte der Bayer seitdem nichts mehr wissen.

Die Kanzlerschaft Kohl begann 1982 mit einem Fehlstart. Versprochen hatte der Pfälzer eine „geistig-moralische Wende“, doch diese Wende hatte 360 Grad. Das heißt, es änderte sich so gut wie nichts. Immerhin hielt die christlich-liberale Koalition 16 lange Jahre und brachte in ihrer Anfangszeit sogar eine nennenswerte Steuerreform mit fühlbaren Entlastungen zustande, was danach keiner Regierung mehr gelang.

Gegen Paris und London  die Einheit durchgesetzt   

Kleine Krisen wechselten sich mit größeren Krisen ab, sein Kabinett bildete Kohl häufiger um – nach dem Grundsatz, daß neue Besen gut kehren müßten, wie eine frühe Asylkrise zeigte, als eine aus heutiger Sicht lächerlich geringe Zahl von Ausländern um Asyl bat und „Die Republikaner“ plötzlich Wahlerfolge erzielten. Erst der Wechsel im Innenministerium von Minister Fritz Zimmermann (CSU) zu Wolfgang Schäuble machte die Einigung über ein anderes Asylrecht möglich. Der Zuspruch für die Republikaner ging zurück.

Das eigentliche Thema der Ära Kohl war nicht die Nato-Nachrüstung oder die Atompolitik, sondern die deutsche Frage, die für Kohl und Bonn plötzlich, unerwartet und auch unerwünscht auf die Tagesordnung kam. Den Pfälzer Kohl interessierte eine operative Wiedervereinigungspolitik nicht; sie gehörte für ihn zum „blühenden Unsinn“. Er hatte eine starke Affinität zu Frankreich, wo man Deutschland so schön fand, daß man dauerhaft zwei Deutschlands wollte, wie Spötter damals sagten. Als Kohl 1987 beim Empfang des DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker in Bonn die deutsche Frage eher nebenbei ansprach, wurde dies als sehr ungehörig empfunden, brachte großen Ärger mit Paris und der innerparteilichen Opposition Zuspruch.

Jetzt rächte sich ein Defizit Kohls: Eine gute Hand für Personal hatte er nie. Heiner Geißler und Rita Süssmuth waren seine Entdeckungen; zusammen mit Ernst Albrecht und Norbert Blüm wollten sie ihn kurz vor dem Mauerfall 1989 auf dem Parteitag in Bremen stürzen. Kohl setzte sich knapp durch.

Nach dem Mauerfall witterte Kohl die Chance, auf die historische Ebene zu kommen. Er setzte gegen Frankreich und Großbritannien, aber mit den USA und Rußland auf die Option Einheit. Der Preis zur Beruhigung der aufgebrachten Gemüter in London und Paris war hoch: Der neue deutsche Staat verlor mit den Verträgen von Maastricht und Schengen weite Teile seiner Souveränität. Trotzdem ist auch richtig, was Bundestagspräsident Norbert Lammert in einem Nachruf schrieb: „Kohl hat entscheidend zu den glücklichsten Zeiten beigetragen, die wir Deutschen je hatten.“ Von Herzen kam auch eine Würdigung des früheren US-Präsidenten George H.W. Bush: „Bei all unseren Anstrengungen war Helmut ein Fels – stark und beständig.“ Aus Wladimir Putin spricht großer Respekt: „Ich habe seine Weisheit bewundert und seine Fähigkeit, fundierte, zukunftsweisende Entscheidungen auch in schwierigsten Situationen zu treffen.“ Einen guten Zeitpunkt zum Rückzug aus der Politik fand Kohl aber nicht, so daß er, vom Grünen Joschka Fischer als „160 Kilo Fleisch gewordene Vergangenheit“ verspottet, 1998 von Gerhard Schröder (SPD) besiegt wurde.

Kohls Traum von den „blühenden Landschaften“ in den neuen Ländern hat sich nur teilweise erfüllt. Ein personeller Mißgriff aus dieser Zeit verfolgt ihn über den Tod hinaus: Angela Merkel hat ihn nicht nur im Zuge einer Spendenaffäre vom Ehrenvorsitzenden-Thron der CDU gestoßen, sondern verdreht sein Vermächtnis des föderalen, demokratischen und von seinen Bürgern aktiv getragenen Deutschlands hin zu einer amorphen Zivilgesellschaft. Kohl, Signum eines anderen Deutschlands, vereinsamte in den vergangenen Jahren. Einen Staatsakt der Berliner Republik wollte er, der für Berlin als Regierungssitz war, ausdrücklich nicht.